Sonntag, 31. August 2008

Thuner Strom: Rhapsodie in grau

Die neuen Stromprodukte der Energie Thun AG sind da und werden ab 1. Januar 2009 im Versorgungsgebiet des Unternehmens geliefert. Es sind dies

  • „Graustrom“
  • „Blaustrom“
  • Thuner AAREstrom
  • Thuner Solarstrom
„Graustrom“ definiert das Unternehmen als Strom aus nicht erneuerbaren Energien (Kernkraft, fossile Energieträger) oder unbekannter Herkunft. „Blaustrom“ ist zu 97.5% Elektrizität aus Wasserkraft und zu 2.5% aus so genannten neuen erneuerbaren Energien. „AAREstrom“ produziert die Energie Thun AG selbst in ihrem Laufkraftwerk an der Aare in Thun. Wer sich als Kunde nicht wehrt, wird ab Neujahr automatisch mit „Blaustrom“ beliefert, der 1 Rappen pro Kilowattstunde teurer ist als „Graustrom“. Soweit das Produktmanagement der Energie Thun AG.

„Graustrom“ weckt Assoziationen. An „Grauzone“: Weder gut noch schlecht, zumindest noch nicht nachweislich schlecht – sonst dürfte man’s ja nicht verkaufen; undefinierbar. An „graue Energie“: Verdeckter Energieaufwand. An „grau“ wie schmutzig. An „Grauen“: Da ist Atom drin, mir graut davor… Ebenso weckt „Blaustrom“ Assoziationen. „Blau“ wie der Thunersee und die saubere Aare. An der schönen blauen Donau. „Blau“ wie der Blaue Planet: Inbegriff für unsere Existenzgrundlage. Soweit das Produktmarketing der Energie Thun AG.

Nun zu den Realitäten. Rund 46% des von der Energie Thun AG gelieferten Stroms stammt aus Kernkraft. Rund 6% des Stroms stammt aus nicht überprüfbaren Quellen. Das heisst, dass etwa die Hälfte des in Thun verbrauchten Stroms „Graustrom“ ist. Der Rest stammt aus Wasserkraft (38%) und Abfällen (9%). Solarstrom und fossil erzeugter Strom existieren bisher faktisch nur in den Unternehmensbroschüren, nicht aber im Leitungsnetz.

Mit Ausnahme von „Graustrom“ bezeichnet die Energie Thun AG ihre anderen drei Produkte völlig willkürlich als „CO2-frei“. In umfangreichen Lebenszyklusanalysen von Stromproduktionsanlagen sind aber folgende Emissionswerte für Treibhausgase in Gramm-Äquivalenten CO2/kWh erhoben worden [Frans H. Koch, Hydropower – Internalised Costs and Externalised Benefits, in Externalities and Energy Policy: The Life Cycle Analysis Approach, Workshop Proceedings, Paris, 15.-16. November 2001, OECD/NEA]:
Technologieg/kWh
Wasserkraft2 - 48
Kernkraft2 - 59
Windkraft7 - 124
Photovoltaik13 - 731
Erdgas (GUD)389 - 511
Kohle (modern)790 - 1‘182

Das heisst für alle praktischen Belange und über die ganze Lebensdauer eines entsprechenden Elektrizitätswerks gesehen (und im Falle der Kernkraft über den ganzen Kernbrennstoffkreislauf von der Mine bis zum Endlager) sind Wasserkraft und Kernkraft bezüglich Treibhausgasemissionen pro erzeugter Kilowattstunde vergleichbar – und wesentlich emissionsärmer als Windturbinen und Photovoltaikanlagen. Nimmt man andere Schadstoffemissionen hinzu wie etwa SO2, NOx, flüchtige organische Verbindungen neben Methan, oder Partikelstoffe, dann akzentuiert sich das Bild von der vergleichbar sauberen Wasser- und Kernkraft noch, und die anderen Technologien fallen klar ab.

Das Marketing der Energie Thun AG setzt auf die Suggestivkraft der Farben und ein zweifelhaftes Label, um zweit-, dritt- und viertrangige Stromprodukte hochzuspielen. Ich lasse mir den ebenso sauberen Atomstrom nicht „vergrauen“ und werde aus Überzeugung „Graustrom“ bestellen.

Misstöne im Leidgesang der Energie Thun AG

Auch gekleidet in die Ankündigung neuer, bunter Stromprodukte ab Januar 2009 liess sich die Hiobsbotschaft der Energie Thun AG vom 27. August 2008 nicht wirksam verhüllen: Der Strom in Thun wird teurer und zwar massiv. Auf den Zeitpunkt der Marktöffnung für Grossverbraucher am 1. Januar 2009 verteuert das Unternehmen seine Stromlieferungen an Privathaushalte um rund 20%, für kleinere Haushalte sogar um deutlich mehr.

In der Medienberichterstattung über die Hintergründe dieses Preisschubs fehlte der Hinweis auf höhere Steuern und Abgaben – auch an die Stadt Thun – nirgends. „Der Bund“ vom 28. August führte höhere Abgaben an die Stadt unter den Hauptgründen für die Preiserhöhung an, noch vor den gestiegenen Kosten für die Beschaffung. Auch das Thuner Tagblatt vom 28. August und Radio DRS im Regionaljournal BE FR VS vom 27. August begründeten eine Mehrbelastung der Energie Thun AG mit höheren Abgaben an die Stadt Thun.

Die für die Thuner Haushalte schmerzhafte Teuerung mag verschiedene Gründe haben, von denen die höheren Stromeinkaufspreise bei der BKW ab 1. Oktober 2008 mit Sicherheit der gewichtigste sind. Ebenso sicher lässt sich sagen, dass im Zuge dieser Preisanpassung jeder erklärende Hinweis auf höhere Abgaben und Steuern an die Stadt Thun absolut haltlos ist.
Wohl haben wir im Thuner Stadtrat an der Sitzung vom 5. Juni 2008 eine Änderung der Versorgungsvereinbarung mit der Energie Thun AG beschlossen, und zwar auf Antrag des Unternehmens. Der beschlossene Systemwechsel zum Bruttoprinzip besteht darin, dass die bisherige Mischung von fixen und umsatzabhängigen Barzahlungen sowie Gratislieferungen von Energie und Wasser der Energie Thun AG an die Stadt abgelöst wird durch einen genau definierten Globalbeitrag der Energie Thun AG an Stadt einerseits und die marktmässige Bezahlungen aller erbrachten Lieferungen und Leistungen durch die Stadt andererseits. Die überarbeitete Vereinbarung hat insgesamt weder für die Stadt Thun noch für die Energie Thun AG eine Mehrbelastung zur Folge.

Der Stadtrat würdigte diesen Änderungsantrag als Möglichkeit, dem Unternehmen Energie Thun AG im künftigen Wettbewerb zu mehr Flexibilität zu verhelfen, indem beispielsweise bei Offerten für Grossabnehmer künftig nicht mehr die bisherige 2%ige Umsatzabgabe an die Stadt einfliessen muss.

So gesehen ist mir unerklärlich, wie die Unternehmensleitung an der Medienorientierung vom 27. August die oben erwähnte Falschdarstellung in Radio- und Zeitungsberichten ausgelöst hat. Zumindest lenkt sie vom Umstand ab, dass es mit der viel beschworenen traditionellen Unabhängigkeit des Unternehmens nicht weit her ist. Bei einem Eigenversorgungsgrad mit Strom von lediglich 20% und gar von Null beim Erdgas schlagen höhere Einkaufspreise zwangsläufig direkt auf die Endkonsumenten durch. „Wir könnten die höheren Kosten sonst nicht tragen“, klagte Michael Gruber, Direktor der Energie Thun AG, denn auch gegenüber der Thuner Tagblatt sein Leid.

Auch wenn die angekündigte Preiserhöhung ansonsten in keinem Zusammenhang mit dem politischen Geschäft eines möglichen Teilverkaufs der Energie Thun AG an die BWK steht, so unterstreicht sie doch die Bedeutung strategischer Partnerschaften in der Beschaffung von Strom und Gas und in der Senkung von Betriebs- und Unterhaltskosten. Am 5. September werden wir mehr wissen über die Perspektive einer solchen engeren Zusammenarbeit mit der BKW.

Dienstag, 26. August 2008

Wenn die Lust zum Frust wird …

Meine Lust am Lesen ist ungebrochen, obwohl auch sie zuweilen zum Frust wird. So geschehen bei der Lektüre der jüngsten Ausgabe von „thun!dasmagazin“, Nr. 4 / August 2008, dem Thuner Stadtmagazin und Gemeinschaftswerk von Stadtmarketing Thun, Innenstadt-Genossenschaft Thun, Thun Tourismus, Thun Expo und Parkhaus Thun AG. Das bunt aufgemachte Magazin, das sechsmal pro Jahr in sämtlichen Haushalten im Amt Thun und zusätzlich in Geschäften, Hotels der Thuner Innenstadt und der Kaserne Thun landet, versucht seit seiner Lancierung die Gratwanderung zwischen sachlicher Information und kommerzieller Werbung.

In dieser neuesten Ausgabe wirbt unter dem Rubriktitel „Gesundheit“ der Thuner Arzt Dr. med. Max Brönnimann für medizinische Abhilfe im Fall, dass der Mann ihn nicht mehr hoch kriegt, d.h. bei erektiler Dysfunktion. In einem gestellten Interview mit der Firma Vitarena AG mit Postfachadresse in Thun, aber ohne Handelsregistereintrag, führt Brönnimann aus: „Der erste Schritt liegt also beim betroffenen Mann, der sich nicht scheuen sollte, zu mir als Arzt zu kommen. Die nötige Diskretion ist ihm hier sicher. Es freut mich immer auch, wenn sich betroffene Frauen melden, wenn das ihr Mann nicht übers Herz bringt.“

Ein Blick auf die Website von Dr. Brönnimann, die sich nicht unbescheiden www.hausarzt-thun.ch nennt, lässt vermuten, dass Patienten bei ihm tatsächlich in guten Händen sind, wenn seine medizinischen Künste nur halb so weit reichen wie sein Flair für Marketing. Wie er seine Promotionsoffensive insgesamt mit der Standesordnung der FMH in Einklang bringt, wird er wohl wissen.

Werbung als solche zu kennzeichnen, betrachte ich noch immer als gute verlegerische Praxis. Immerhin sind andere Beiträge im Thuner Magazin ja auch klar ersichtlich als bezahlte Publireportagen ausgezeichnet. Denn: „Eine offene Kommunikation schafft Klarheit, Verständnis und gegenseitiges Vertrauen.“ Schreibt die ominöse Vitarena AG in der Randspalte des hier kritisierten Werbetextes.

Wadenbiss durch Pinguin

Der Steffisburger Präsident des Vereins „Wilhelm Tux“, Kampagne für Freie Software, Theo Schmidt, nimmt aktuelle Betriebsstörungen im Thuner Schulnetz zum Anlass für einen Leserbrief im Thuner Tagblatt vom 21. August 2008. Darin schreibt er: „Unser Verein […] durfte damals dem Stadtrat und der Projektleitung darstellen, wie mit Freier Open-Source-Software (FOSS) kostengünstigere und zuverlässigere Lösungen möglich wären, sei es mit Linux- statt Windows-Servern oder mit einzelnen Programmen wie beispielsweise Open Office statt Microsoft Office. Trotzdem wurde dies abgelehnt.“

Schmidt nimmt damit Bezug auf einen Kreditbeschluss des Thuner Stadtrats von 2005 für den Ausbau der IT-Infrastruktur an den Thuner Volksschulen. Und was in seinem Leserbrief nach Einladung an seinen Verein zur Präsentation von Lösungsvarianten auf der Basis von Freier Software im Stadtrat klingt, waren in Wirklichkeit seine spontanen Lobbying-Aktivitäten bei den einzelnen Ratsmitgliedern, was tatsächlich nicht verboten ist.

Unter dem Titel „Facts“ schreibt Wilhelm Tux auf der Website des Vereins: „Kaum ein Thema in der Informationstechnologie birgt ein derart reichhaltiges Angebot an Für und Wider, an heissblütigen, manchmal auch ideologischen Manifesten zugunsten und zu Ungunsten Freier Software. Befürworter und Gegner werfen sich gegenseitig Teil- und Unwahrheiten an den Kopf, sodass die Frage berechtigt ist, welcher Anteil an Fakten in der Diskussion übrigbleibt.“ Ganz im Sinne dieser Frage nimmt es Schmidt mit der Wahrheit selbst nicht allzu genau, wenn er schreibt: „Die Genfer Schulen möchten allein durch Open Office statt MS Office 300‘000 Franken pro Jahr sparen und gleichzeitig moderne Standardformate unterstützen, was MS Office noch nicht kann.“ Tatsache ist, dass die aktuelle Version 2007 von Microsoft Office mit OOXML, PDF, XPS und ODF alle gängigen modernen Dateiformate schreiben kann – entweder out-of-the-box oder mittels kostenloser Plug-ins. Ob Schmidt neben PDF und ODF ein anderes Format als „Standard“ gelten lässt, bleibt offen. Zumindest hat seine Bewegung für Freie Software unter Federführung der Free Software Foundation die ISO-Standardisierung von OOXML, dem natürlichen Dateiformat von MS Office 2007, weltweit sehr aktiv bekämpft.

Wo in der Ideologie von Wilhelm Tux der Frosch die Locken hat, zeigt das Manifest des Vereins in der Rubrik „Freier Wettbewerb und Ordnungspolitik“: „Gegenwärtig wird der Software-Markt von einem Hersteller in monopolartiger Weise dominiert. Andere Anbieter werden durch eine äusserst aggressive Marktpolitik dieses Herstellers verdrängt, andere Technologien gelangen somit nicht bis zu den Anwendern/Anwenderinnen.“ Ob damit wohl IBM, SAP, Oracle, SAS, CA – oder doch Microsoft – gemeint ist? Wie auch immer, entweder hat man bei Wilhelm Tux ein sehr enges Verständnis des Software-Markts oder schiesst aus anderen Gründen ganz gezielt auf die Firma Microsoft.

Die öffentliche Intervention von Theo Schmidt suggeriert zu Unrecht, auf der Basis einer bestimmten IT-Technologie liessen sich Betriebsstörungen vermeiden. Wer’s glaubt, wird selig. Oder nach Joh 20,29: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“

Freitag, 22. August 2008

25 kleine Negerlein rocken in Thun

Der Thuner Gemeinderat hat in verschiedenen Anläufen aus unterschiedlichen Richtungen versucht, den bekannten Auswüchsen des Nachtlebens in der Altstadt – insbesondere Nachtruhestörungen und Vandalismus – und anderen unerwünschten Entwicklungen in der Innenstadt Herr zu werden. Eine geplante Zonenplanänderung gegen die Ausbreitung des Rotlichtmilieus ist am Veto des Kantons gescheitert. Der Versuch zu einer generellen Überzeitbeschränkung hatte zwar den Segen des kantonalen Wirtschaftsamts, beco, im Spielraum des Gastgewerbegesetzes, scheiterte aber am Veto des Regierungsstatthalters Niedersimmental.

Der an der gestrigen Stadtratssitzung vorgelegte Neuanlauf hatte schon eine öffentliche Mitwirkung hinter sich, in dem nur eine einzige Stellungnahme eingegangen war. Die Vorprüfung durch das kantonale Amt für Gemeinden und Raumordnung war positiv ausgefallen, und während der öffentlichen Planauflage anfangs Jahr war die Vorlage kaum bestritten. Die von Seiten Stadtrat gestern so laut vorgebrachte Kritik an der Vorlage kam für den Gemeinderat wohl relativ spät und unerwartet. Deshalb fragte ich mich, einmal abgesehen von der Detailargumentation und der Frage ihrer Stichhaltigkeit, wie gross ehrlicherweise die Chancen sind, dass der Stadtrat in absehbarer Zeit einen wirklich befriedigenden Alternativvorschlag auf dem Tisch haben wird, falls er den Vorschlag zur Plafonierung als unbefriedigend taxierte und zurückwies. Nach der langen Vorgeschichte gab ich mich diesbezüglich keinen Illusionen mehr hin.

Ich unterstützte die Zielsetzung der vorgeschlagenen Baureglementsänderung voll und ganz. Anstoss nahm ich einzig an der vorgesehenen Plafonierung der Anzahl Betriebe mit Überzeitbewilligung auf den Altstadtgebieten auf die willkürliche Anzahl von 25. Das ist zwar ein sehr einfacher und nachvollziehbarer Mechanismus, aber vielleicht eben ein zu einfacher. Sicher bekämpfte er das Übel nicht an der Quelle, sondern nur sehr indirekt.

Der Regierungsstatthalter Baur des Niedersimmentals hatte seinen abschlägigen Entscheid zum Thuner Antrag für eine generelle Überzeitbeschränkung zuvor damit begründet, die Massnahme sei zu pauschal. Die Stadt Thun und Polizei müssten diejenigen Betriebe ermitteln, die zu Klagen Anlass gäben, und für diese spezifischere Massnahmen entwickeln. Der gestern vorlegte Ansatz war wiederum absolut pauschal. Der Stadtratsbeschluss dazu hätte dem fakultativen Referendum unterlegen. Ausserdem gibt es, neben betroffenen Gastgewerbebetrieben, eine Bewegung von mehrheitlich jungen Leuten in Thun, die gerne eine Perspektive hätten für ein neues Ausgangsangebot als Selve-Ersatz – aus meiner Sicht zu Recht. Diese Perspektive fehlt heute, für diese Nachtschwärmer wäre eine Plafonierung ein weiterer Sargnagel für ihr Freizeitprogramm, und die Unterschriftensammlung für ein Referendum würde im Spätsommer sicher besser klappen als zur Weihnachtszeit.

Einen weiteren reglementarischen Misserfolg der Stadt in der nächtlichen Beruhigung der Innenstadt sähe ich nur sehr ungern.

Deshalb liess ich mich von den im Rat vorgebrachten Argumenten überzeugen, dass eine Rückweisung des Geschäfts das kleinere Übel bedeutete und dass wir eine differenziertere Lösung suchen müssen, welche direkter an der Störungsquelle ansetzt. Ich empfahl deshalb meinen Fraktionskollegen das Geschäft zur Rückweisung.

Der zuständige Gemeinderat Peter Siegenthaler zog schliesslich das Geschäft angesichts drohender Rückweisung aus freien Stücken zurück.

Tausendjähriges Juwel und Kraftort

An bester Lage gegenüber Schadaupark und Scherzligkirche in Thun will die Bieler Firma Espace Real Estate AG als privater Investor Wohnungen gehobenen Standards erstellen. Das entsprechende Baubewilligungsgesuch ist eingereicht, die Einsprachefrist läuft in den nächsten Tagen ab. An Einsprachen gegen das Bauvorhaben wird es nicht mangeln, und darüber hinaus formiert sich leider breiterer Widerstand gegen das Projekt aus Einwohnerkreisen, die nicht direkt einspracheberechtigt sind.

Anstoss genommen wird hauptsächlich an der vorgesehenen Bauhöhe der drei Wohneinheiten gegenüber der Scherzligkirche, die viergeschossig ausgelegt sind und in erdrückender Nähe zur Kirche das Ortsbild einschneidend verändern werden.

Das Bauprojekt stützt sich auf das Baureglement und den Zonenplan der Stadt Thun von 2002, den wir Stadträte und Stadträtinnen an der Sitzung vom 14. März 2002 zu Handen der Volksabstimmung vom 2. Juni 2002 verabschiedet und so mitzuverantworten haben. Die darin für die Schadau vorgesehene Zone mit Planungspflicht sieht als grundsätzliches Nutzungsmass dreigeschossige Bauten vor mit der Möglichkeit zu punktuellen Abweichungen, sofern diese „städtebaulich begründet sind und zu einer erhöhten räumlichen Qualität führen.“

Die Prüfung der Zonenkonformität und Einhaltung der baupolizeilichen Vorschriften ist Sache des laufenden Baubewilligungsverfahrens, auf das wir keinerlei Einfluss nehmen wollen. Bei Einhaltung der relevanten Vorschriften steht dem Investor die Realisierung des Projekts wie vorgesehen zu. Das gebietet sein Anspruch auf Planungssicherheit, die wir hochhalten.

Daneben zeigt uns aber die Anzahl und Vehemenz der ablehnenden öffentlichen Reaktionen quasi „in letzter Minute“, dass eine lokalpolitische Auseinandersetzung mit dem konkreten Bauprojekt und seinen Implikationen für das Ortsbild nicht oder nur ungenügend stattgefunden hat – dies in erster Linie weil es aus einer kantonalen Ausschreibung mit Projektwettbewerb hervorgegangen ist.

Die Frage des Gestaltungsgrundsatzes, inwieweit mit der vorgesehenen Auslegung die spezifischen Qualitäten des Ortes Scherzligen als Standort der Scherzligkirche die nötige Beachtung finden, wurde offenbar von der Jury und der kantonalen Denkmalpflege deutlich anders beantwortet als von breiten Bevölkerungskreisen.

Die Scherzligkirche ist keine Kathedrale und hat in ihrer langen Geschichte nie den Anspruch erhoben, mit umliegenden Gebäuden konkurrieren zu wollen. Der Aufbau einer mächtigen, viergeschossigen Fassadenfront unmittelbar jenseits der Seestrasse würde aber auch in meinem Empfinden eine bedauerliche Entwertung des tausendjährigen Sakralbaus bedeuten, um nicht zu sagen die Entweihung eines noch viel älteren Kult- und späteren Wallfahrtsortes.

Der angezeigte Respekt vor dieser Geschichte und Bedeutung des Orts gebietet für mich eine zurückhaltendere Bauweise. Eine derartige Beeinträchtigung des Ortsbildes wäre auch volkswirtschaftlich-touristisch ein Sündenfall und würde vergangene und zukünftige Bemühungen um die Wertsteigerung und Nutzung des touristisch hervorragenden Ensembles Schadau/ Scherzligkirche zunichte machen.

Die Bauherrschaft hat im Werdegang des Projekts und in der Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege ein hohes Mass an Verantwortungsbewusstsein und Kooperationsbereitschaft bewiesen. Das lässt uns auf ein offenes Ohr für bisher noch zu wenig artikulierte Anliegen der Thunerinnen und Thuner hoffen.

An der gestrigen Stadtratssitzung regte ich deshalb im Rahmen einer Fraktionserklärung beim Gemeinderat an, informell das konstruktive Gespräch zur Bauherrschaft zu suchen, um ihr den Hintergrund der breiten Opposition auszuleuchten und die Möglichkeiten und allfällige Bereitschaft für eine angemessene Reaktion auszuloten.

Donnerstag, 14. August 2008

Klappe auf und zu – So fühlt sich Ihr Baby wohl

Ich suche auf Google nach „Babyfenster“, und Google AdSense beglückt mich zynisch mit der Werbung für den Online-Shop mit allem fürs Neugeborene: „So fühlt sich Ihr Baby wohl!“ – „Wohl kaum“, denke ich konsterniert.

Eine unbekannte Mutter legt am 1. August ihren Säugling ins Babyfenster des Spitals Einsiedeln, und die Schweiz freut sich darüber, dass diese landesweit einzigartige Einrichtung wieder einmal verwendet wurde. Das Spital selbst bewirbt die Babyklappe denn auch entsprechend: „Die Mutter öffnet das Fenster, legt es hinein, schliesst das Fenster wieder und entfernt sich. Im Spital gibt es verzögert Alarm. Krankenschwestern nehmen sich des Kindes an. Es kommt in gute Hände.“

Nun ja, besser aufgehoben ist der Säugling allemal im Spital als das Neugeborene, das am 8. Oktober 2005 von seiner Mutter in einem Einkaufswagen im Coop-„Saagi-Zentrum“ in Steffisburg abgelegt und verlassen wurde. Ich gebe zu, dass diese Not meine Vorstellungskraft übersteigt, die Not, welche eine Mutter oder ein Elternpaar zur Aussetzung ihres neugeborenen Kindes treibt. Und trotzdem gibt es solche Fälle, und hat sie wohl immer gegeben – von Ödipus im alten Griechenland, von Romulus und Remus im alten Rom bis heute.

Bei allen rechtlichen und ethischen Vorbehalten gegen die Institution Babyklappe ist sie doch von vielen denkbaren Alternativen nicht die schlechteste. Zumindest der Gedanke an Abtreibung oder eine Kindheit und Jugend in zerrütteten familiären Verhältnissen eröffnet keine besseren Perspektiven.

Und trotzdem: Der Aussetzung im Babyfenster geht ja wohl in aller Regel eine einsame und nicht ungefährliche Geburt unter misslichen Bedingungen voraus. Diese Erfahrung könnten wir einigen Müttern in Not mit der Möglichkeit zur anonymen Geburt im Spital ersparen, wo die medizinische Betreuung sichergestellt ist. Diese Möglichkeit ist seit Jahren in Frankreich legalisiert, in Österreich straffrei, und in Deutschland machen sich die Spitäler eine Gesetzeslücke zu Nutze, um straffrei zu bleiben.

Einem Bericht des Tagesanzeiger vom 7. August 2008 zufolge kommen in Deutschland jährlich mehrere Hundert Kinder anonym zur Welt. Über 60% der anonym gebärenden Frauen hätten sich aber unmittelbar nach der Geburt dafür entschieden, ihr Kind zu behalten. Von den übrigen Müttern hätten die meisten innerhalb von wenigen Tagen beschlossen, ihre Identität bekannt zu geben, so dass ihre Kinder später erfahren können, von wem sie abstammen. Die Geheimhaltung helfe in erster Linie, die kurzfristige Notlage zu überbrücken.

Das Anliegen der anonymen Geburt ist auch in der Schweiz nicht neu. Bereits im Herbst 2001 reichte EDU-Nationalrat Christian Waber mit Unterstützung von Walter Donzé und Heiner Studer (EVP) eine entsprechende Motion ein, die der Bundesrat ablehnte, die im Parlament schlechte Aufnahme fand und schliesslich 2003 altershalber abgeschrieben wurde. Eine zweite, ähnlich lautende Motion von SP-Nationalrätin Josy Gyr vom Juni 2005 ist im Ratsplenum noch nicht behandelt worden. Nach dem Tod von Frau Gyr hat ihr Parteikollege Andy Tschümperlin den hängigen Vorstoss übernommen.

Der Schwyzer CVP-Nationalrat Reto Wehrli hat nun angekündigt, er wolle das Thema im Herbst mit einem eigenen Vorstoss neu aufnehmen. Das scheint mir durchaus lohnenswert zu sein.