Montag, 10. Oktober 2011

Geisterfahrer auf der Beschaffungsautobahn

Sie kennen wohl den Witz vom Falschfahrer auf der Autobahn, der am Radio die Warnung hört, auf seinem Teilstück komme ihm ein Geisterfahrer entgegen. „Was heisst hier ein Geisterfahrer“, meint er entnervt, „es sind Hunderte!“

Etwa so verhält es sich mit der Parlamentarischen Gruppe Digitale Nachhaltigkeit. Ihr umtriebiger Geschäftsführer Matthias Stürmer wird nicht müde, jede öffentliche IT-Ausschreibung, die ein Softwareprodukt aus dem Hause Microsoft namentlich erwähnt, als Verstoss gegen die Beschaffungsrichtlinien der Welthandelsorganisation WTO, von Bund, Kantonen oder Gemeinden anzuprangern. Entsprechend dem Verbreitungs- und Standardisierungsgrad von Microsoft-Produkten für die Büroautomation gibt es viele solche Fälle – wohl Hunderte pro Jahr.

Nicht dass es Stürmer am Verständnis für den Sachverhalt fehlte. Als Mitarbeiter der global tätigen Wirtschaftsprüfungs- und –beratungsfirma Ernst & Young mit 152‘000 Mitarbeitenden in 140 Ländern ist er selber durchaus an einen Standard-IT-Arbeitsplatz und den Umgang mit standardisierten Software-Werkzeugen gewohnt. Auch Ernst & Young überlässt seinen Länderniederlassungen und Regionalvertretungen nicht die freie Wahl von Softwareprodukten bei der Ausrüstung ihrer Arbeitsplätze, sondern erlässt Vorgaben für Standardprodukte, die einheitlich paketiert und ausgerollt werden.

Wenn nicht fehlender Sachverstand, dann kann nur System hinter der fortgesetzten Geisterfahrt von Stürmer und seiner Parlamentariergruppe stecken. Mit der systematischen Diskreditierung des Marktführers Microsoft im Bereich der Bürosoftware soll dem Umstand entgegengewirkt werden, dass es Open-Source-Software für diese Anwendungen bisher kaum in die Standardproduktkataloge der Privatwirtschaft und öffentlichen Verwaltung geschafft hat.

Das jüngste Opfer dieser Masche ist der Bund-Journalist David Vonplon, dessen Artikel im heutigen „Bund“ eine Benachteiligung der Schweizer Software-Hersteller durch das EDA gegenüber den US-Software-Giganten beklagt. Er stösst damit ins selbe Horn wie eine Paneldiskussionsrunde zum Thema „Politik und IT in der Schweiz“ an der Berner Topsoft-Messe von letzter Woche. Auch dort wird Stürmer mit der Aussage zitiert, rund die Hälfte der öffentlichen IT-Beschaffungen verstiessen gegen WTO-Regeln und verbauten Schweizer Softwareentwicklern die Chancen überhaupt mitzubieten.

Diese Aussage ist falsch. Die Schweiz ist beschaffungsrechtlich keine Bananenrepublik, und unsere Beschaffungsrichtlinien werden nicht permanent in diesem Ausmass missachtet. Als Leiter einer erfolgreichen mittelständischen Schweizer Softwarefirma darf ich auch festhalten, dass uns diese Beschaffungspraxis keiner Chancen beraubt. Es wäre an der Zeit zu klären, welchen Standpunkt Stürmer bei solchen Gelegenheiten jeweils öffentlich vertritt: Denjenigen seines renommierten Arbeitgebers Ernst & Young, oder denjenigen der hiesigen Open-Source-Lobby, die zuweilen ihre Felle davon schwimmen sieht.

Bei den Mitgliedern der Parlamentarischen Gruppe Digitale Nachhaltigkeit zeigt das Beispiel der SP-Nationalrätin Edith Graf-Litscher, wie hoch die öffentlichen Beschaffungsnormen im Falle von Eigeninteressen gehalten werden. Sie, die am 21. September 2011 in einem Vorstoss die Verletzung der WTO-Regeln durch das EDA beklagte, hatte nur gerade zwei Tage zuvor die nationalrätliche Fragestunde in einem Vorstoss zur Stärkung des Binnenmarktes genutzt mit der Frage an Bundesrat Schneider-Ammann: „Wäre es denn da nicht eine Möglichkeit, auch im Rahmen der Gatt/WTO-Regelungen für eine gewisse Flexibilität zu sorgen?“

Dienstag, 4. Oktober 2011

Eine energiepolitische Stampede

„Dagegen herrscht zwischen Sonne und Erde eine kolossale Temperaturdifferenz; […] Der in dem Streben nach grösserer Wahrscheinlichkeit begründete Temperaturausgleich zwischen beiden Körper dauert wegen ihrer enormen Entfernung und Grösse Jahrmillionen. Die Zwischenformen, welche die Sonnenenergie annimmt, bis sie zu Erdtemperatur herabsinkt, können unwahrscheinliche Energieformen sein; wir können den Wärmeübergang von der Sonne zur Erde leicht zu Arbeitsleistungen benützen, wie den vom Wasser des Dampfkessels zum Kühlwasser… Diesen Übergang möglichst auszunutzen, breiten die Pflanzen die unermessliche Fläche ihrer Blätter aus und zwingen die Sonnenenergie in noch unerforschter Weise, ehe sie auf das Temperaturniveau der Erdoberfläche herabsinkt, chemische Synthesen auszuführen, von denen man in unseren Laboratorien noch keine Ahnung hat.“

So gesprochen von Ludwig Boltzmann in seinem Vortrag vor der feierlichen Sitzung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften am 29. Mai 1886 und zitiert ungefähr 100 Jahre später von Robert Huber in seinem Nobel-Vortrag über die strukturelle Grundlage für die Übertragung von Lichtenergie und Elektronen in der Biologie (R. Huber, Angew. Chem. 101 (1989) 849) .

Die frühe Aussage Boltzmanns über das Unvermögen der Naturwissenschaft, die Geheimnisse der photosynthetischen Umsetzung von Sonnenlicht auch nur zu erahnen, darf heute, nach langen Jahren intensiver Forschung auf diesem Gebiet sicher relativiert werden. Die Charakterisierung der „unwahrscheinlichen Zwischenformen der Energie“ als angeregte elektronische und insbesondere Ladungstransfer-Zustände setzte die theoretischen Hilfsmittel der Quantenmechanik voraus, deren Verfügbarkeit erst ein fundiertes Verständnis des grundlegendsten aller photosynthetischen Teilschritte erlaubte: der molekularen Absorption eines Photons.

In ihrem Bestreben, sich die von der Natur gelernten Synthesetechniken im Sinne von Boltzmann zu eigen zu machen, ist die Photochemie heute wiederum auf dieselben Untersuchungsmethoden angewiesen, wie sie auch zur Aufklärung von komplexen Molekülstrukturen und Reaktionskinetiken an natürlichen Systemen verwendet werden.

Im Rahmen eines längerfristigen Forschungsprojekts zur photochemischen Umwandlung und Speicherung von Sonnenenergie habe ich diesen Untersuchungsmethoden von 1985-1989 meine Dissertation und weitere Post-doc-Projekte gewidmet.

Ich glaube auch heute noch fest an die Sonnenenergie und an die Sonne als diejenige Quelle, die unsere Gesellschaft langfristig energetisch versorgen wird. Photovoltaik funktioniert, und sie funktioniert vor allem schon heute. Aber Photovoltaik und die physikalische Speicherung von Solarstrom in Pumpspeicherwerken sind nicht der Ersatz für Kernenergie.

Die wirkliche Herausforderung ist auch heute noch die chemische Umwandlung und Speicherung von Sonnenenergie. Die ganze fossile Energiewirtschaft des 20. und 21. Jahrhunderts zehrt ja von chemischen Speichern – Kohle, Erdöl, Gas –, die vor Hunderten Millionen Jahren von der Sonne gefüllt wurden. Wo es um Transport und Lagerung geht, ist die Energiedichte entscheidend, und die ist bei chemischer Speicherung unerreicht – von der Kernenergie einmal abgesehen.

Die von der Politik auch in der Schweiz aktuell proklamierte Energiewende unter Verzicht auf Kernenergie ist ein Irrweg, eine energiepolitische Stampede aufgeschreckt durch die anstehenden Wahlen und drohenden Wählerverluste. Wissenschaftlicher Fortschritt lässt sich wohl politisch fördern – und schon damit tut sich die Politik recht schwer –, aber legislativ keineswegs so verordnen wie etwa der Atomausstieg.