Montag, 10. Oktober 2011

Geisterfahrer auf der Beschaffungsautobahn

Sie kennen wohl den Witz vom Falschfahrer auf der Autobahn, der am Radio die Warnung hört, auf seinem Teilstück komme ihm ein Geisterfahrer entgegen. „Was heisst hier ein Geisterfahrer“, meint er entnervt, „es sind Hunderte!“

Etwa so verhält es sich mit der Parlamentarischen Gruppe Digitale Nachhaltigkeit. Ihr umtriebiger Geschäftsführer Matthias Stürmer wird nicht müde, jede öffentliche IT-Ausschreibung, die ein Softwareprodukt aus dem Hause Microsoft namentlich erwähnt, als Verstoss gegen die Beschaffungsrichtlinien der Welthandelsorganisation WTO, von Bund, Kantonen oder Gemeinden anzuprangern. Entsprechend dem Verbreitungs- und Standardisierungsgrad von Microsoft-Produkten für die Büroautomation gibt es viele solche Fälle – wohl Hunderte pro Jahr.

Nicht dass es Stürmer am Verständnis für den Sachverhalt fehlte. Als Mitarbeiter der global tätigen Wirtschaftsprüfungs- und –beratungsfirma Ernst & Young mit 152‘000 Mitarbeitenden in 140 Ländern ist er selber durchaus an einen Standard-IT-Arbeitsplatz und den Umgang mit standardisierten Software-Werkzeugen gewohnt. Auch Ernst & Young überlässt seinen Länderniederlassungen und Regionalvertretungen nicht die freie Wahl von Softwareprodukten bei der Ausrüstung ihrer Arbeitsplätze, sondern erlässt Vorgaben für Standardprodukte, die einheitlich paketiert und ausgerollt werden.

Wenn nicht fehlender Sachverstand, dann kann nur System hinter der fortgesetzten Geisterfahrt von Stürmer und seiner Parlamentariergruppe stecken. Mit der systematischen Diskreditierung des Marktführers Microsoft im Bereich der Bürosoftware soll dem Umstand entgegengewirkt werden, dass es Open-Source-Software für diese Anwendungen bisher kaum in die Standardproduktkataloge der Privatwirtschaft und öffentlichen Verwaltung geschafft hat.

Das jüngste Opfer dieser Masche ist der Bund-Journalist David Vonplon, dessen Artikel im heutigen „Bund“ eine Benachteiligung der Schweizer Software-Hersteller durch das EDA gegenüber den US-Software-Giganten beklagt. Er stösst damit ins selbe Horn wie eine Paneldiskussionsrunde zum Thema „Politik und IT in der Schweiz“ an der Berner Topsoft-Messe von letzter Woche. Auch dort wird Stürmer mit der Aussage zitiert, rund die Hälfte der öffentlichen IT-Beschaffungen verstiessen gegen WTO-Regeln und verbauten Schweizer Softwareentwicklern die Chancen überhaupt mitzubieten.

Diese Aussage ist falsch. Die Schweiz ist beschaffungsrechtlich keine Bananenrepublik, und unsere Beschaffungsrichtlinien werden nicht permanent in diesem Ausmass missachtet. Als Leiter einer erfolgreichen mittelständischen Schweizer Softwarefirma darf ich auch festhalten, dass uns diese Beschaffungspraxis keiner Chancen beraubt. Es wäre an der Zeit zu klären, welchen Standpunkt Stürmer bei solchen Gelegenheiten jeweils öffentlich vertritt: Denjenigen seines renommierten Arbeitgebers Ernst & Young, oder denjenigen der hiesigen Open-Source-Lobby, die zuweilen ihre Felle davon schwimmen sieht.

Bei den Mitgliedern der Parlamentarischen Gruppe Digitale Nachhaltigkeit zeigt das Beispiel der SP-Nationalrätin Edith Graf-Litscher, wie hoch die öffentlichen Beschaffungsnormen im Falle von Eigeninteressen gehalten werden. Sie, die am 21. September 2011 in einem Vorstoss die Verletzung der WTO-Regeln durch das EDA beklagte, hatte nur gerade zwei Tage zuvor die nationalrätliche Fragestunde in einem Vorstoss zur Stärkung des Binnenmarktes genutzt mit der Frage an Bundesrat Schneider-Ammann: „Wäre es denn da nicht eine Möglichkeit, auch im Rahmen der Gatt/WTO-Regelungen für eine gewisse Flexibilität zu sorgen?“

Dienstag, 4. Oktober 2011

Eine energiepolitische Stampede

„Dagegen herrscht zwischen Sonne und Erde eine kolossale Temperaturdifferenz; […] Der in dem Streben nach grösserer Wahrscheinlichkeit begründete Temperaturausgleich zwischen beiden Körper dauert wegen ihrer enormen Entfernung und Grösse Jahrmillionen. Die Zwischenformen, welche die Sonnenenergie annimmt, bis sie zu Erdtemperatur herabsinkt, können unwahrscheinliche Energieformen sein; wir können den Wärmeübergang von der Sonne zur Erde leicht zu Arbeitsleistungen benützen, wie den vom Wasser des Dampfkessels zum Kühlwasser… Diesen Übergang möglichst auszunutzen, breiten die Pflanzen die unermessliche Fläche ihrer Blätter aus und zwingen die Sonnenenergie in noch unerforschter Weise, ehe sie auf das Temperaturniveau der Erdoberfläche herabsinkt, chemische Synthesen auszuführen, von denen man in unseren Laboratorien noch keine Ahnung hat.“

So gesprochen von Ludwig Boltzmann in seinem Vortrag vor der feierlichen Sitzung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften am 29. Mai 1886 und zitiert ungefähr 100 Jahre später von Robert Huber in seinem Nobel-Vortrag über die strukturelle Grundlage für die Übertragung von Lichtenergie und Elektronen in der Biologie (R. Huber, Angew. Chem. 101 (1989) 849) .

Die frühe Aussage Boltzmanns über das Unvermögen der Naturwissenschaft, die Geheimnisse der photosynthetischen Umsetzung von Sonnenlicht auch nur zu erahnen, darf heute, nach langen Jahren intensiver Forschung auf diesem Gebiet sicher relativiert werden. Die Charakterisierung der „unwahrscheinlichen Zwischenformen der Energie“ als angeregte elektronische und insbesondere Ladungstransfer-Zustände setzte die theoretischen Hilfsmittel der Quantenmechanik voraus, deren Verfügbarkeit erst ein fundiertes Verständnis des grundlegendsten aller photosynthetischen Teilschritte erlaubte: der molekularen Absorption eines Photons.

In ihrem Bestreben, sich die von der Natur gelernten Synthesetechniken im Sinne von Boltzmann zu eigen zu machen, ist die Photochemie heute wiederum auf dieselben Untersuchungsmethoden angewiesen, wie sie auch zur Aufklärung von komplexen Molekülstrukturen und Reaktionskinetiken an natürlichen Systemen verwendet werden.

Im Rahmen eines längerfristigen Forschungsprojekts zur photochemischen Umwandlung und Speicherung von Sonnenenergie habe ich diesen Untersuchungsmethoden von 1985-1989 meine Dissertation und weitere Post-doc-Projekte gewidmet.

Ich glaube auch heute noch fest an die Sonnenenergie und an die Sonne als diejenige Quelle, die unsere Gesellschaft langfristig energetisch versorgen wird. Photovoltaik funktioniert, und sie funktioniert vor allem schon heute. Aber Photovoltaik und die physikalische Speicherung von Solarstrom in Pumpspeicherwerken sind nicht der Ersatz für Kernenergie.

Die wirkliche Herausforderung ist auch heute noch die chemische Umwandlung und Speicherung von Sonnenenergie. Die ganze fossile Energiewirtschaft des 20. und 21. Jahrhunderts zehrt ja von chemischen Speichern – Kohle, Erdöl, Gas –, die vor Hunderten Millionen Jahren von der Sonne gefüllt wurden. Wo es um Transport und Lagerung geht, ist die Energiedichte entscheidend, und die ist bei chemischer Speicherung unerreicht – von der Kernenergie einmal abgesehen.

Die von der Politik auch in der Schweiz aktuell proklamierte Energiewende unter Verzicht auf Kernenergie ist ein Irrweg, eine energiepolitische Stampede aufgeschreckt durch die anstehenden Wahlen und drohenden Wählerverluste. Wissenschaftlicher Fortschritt lässt sich wohl politisch fördern – und schon damit tut sich die Politik recht schwer –, aber legislativ keineswegs so verordnen wie etwa der Atomausstieg.

Samstag, 2. April 2011

Ökoterror: Brandbeschleuniger des Ausstiegs

Erst gerade im vergangenen November habe ich in einem Referat meine Zuhörer kurz ins Jahr 1977 zurückversetzt – ins Jahr der Demonstrationen gegen das AKW Gösgen, ins Jahr der Sprengstoffanschläge gegen verschiedene Einrichtungen der hiesigen Stromwirtschaft. Ich habe dabei auch die Prognose gewagt, dass wir solche Szenarien in der Schweiz bald wieder erleben werden. Leider ist meine Prognose diese Woche rascher bestätigt worden, als ich selber erwartet hatte.

Ein Briefbombenanschlag auf das Oltener Büro der Fachgruppe Kernenergie von Swisselectric, ehemals Unterausschuss Kernenergie der Überlandwerke (heute Axpo, EGL, CKW, Alpiq und BKW), ist offenbar in voller Absicht zu töten erfolgt. In einem Bekennerschreiben zeichnet die Anarcho-Gruppe Federazione Anarchica Informale (FAI) für den Anschlag verantwortlich. Gemäss Informationen des «Bund» ist auch der Bündner Ökoterrorist Marco Camenisch im Schreiben erwähnt. Camenisch verbüsst zurzeit in der Strafanstalt Pöschwies eine 30-jährige Freiheitsstrafe wegen eines Mordes im Jahre 1998 an einem Zöllner und Sprengstoffanschlägen auf Einrichtungen der Elektrizitätswirtschaft.

Neu ist der anarchistische Bombenterror der linksextremen FAI nicht. Er richtet sich im Allgemeinen gegen Institutionen, welche die Staatsmacht repräsentieren: Polizeistationen, Gefängnisse, Militärkasernen, Politiker. Bei der Wahl von Swissnuclear als Attentatsziel glaube ich aber nicht an einen reinen PR-Coup der FAI. Zu langjährig sind die Kontakte der militanten Anti-AKW-Bewegung zu bewaffneten Gruppierungen wie der FAI.

Blenden wir auch hier kurz zurück ins Jahr 1977. Damals versuchten über 50'000 Demonstrierende bei einer Grosskundgebung im Juli den Bauplatz des Superphénix in Crey-Malville jenseits der französischen Grenze bei Genf zu besetzen. Beim Grosseinsatz der Polizeitruppe CRS kam ein Demonstrant ums Leben. In der aufgeheizten Dauerkontroverse um den Bau des Schnellen Brüters formierte sich in Genf eine Sabotagegruppe, die nach Berichten der «WoZ» von 2003 in der Folge bei der belgischen Gruppe Cellules Communistes Combattantes einen Raketenwerfer des Typs RPG-7 beschaffte. Der ehemalige Genfer Grossrat und Mitglied der Grünen Partei Chaïm Nissim war Mitglied dieser Sabotagegruppe. Er feuerte 1982 eine RPG-7-Rakete auf die fast fertige Kuppel des Superphénix-Reaktorgebäudes ab, verfehlte aber sein Ziel und verursachte nur geringen Sachschaden.

Eine in der Deutschschweiz unter dem Namen «Do it yourself» bekannte Anti-AKW- Sabotagegruppe verübte von 1974 bis 1984 über vierzig Anschläge auf Einrichtungen oder Exponenten der Stromwirtschaft. Roger Monnerat hat sie 2003 für die «WoZ» rekapituliert:
  • Brandanschlag auf die Planbaracke des projektierten AKW in Verbois (GE) (Januar 1974)
  • Die „Entkommenen von Malville“ verüben einen Brandanschlag auf die Empfangshalle der Sulzer AG in Winterthur. (August 1977)
  • Gefälschte Aushangplakate des «Tages-Anzeigers» melden: „AKW-Unfall bei Lyon – 150 Tote.“ (August 1977)
  • Zwischen Dulliken und Olten werden die Fahrleitungen der SBB kurzgeschlossen. Ein Communiqué macht auf die bevorstehende Anlieferung der Brennstäbe für das AKW Gösgen aufmerksam. (Dezember 1977)
  • Zweiter Kurzschluss der SBB-Fahrleitung in der Nähe von Olten. (Dezember 1977)
  • Die Basler AKW-Gegner und -Gegnerinnen blockieren an der Grenze einen Brennstofftransport aus Hanau (BRD) für das AKW Gösgen. (Februar 1978)
  • «Do it yourself» zerstört den für das AKW Leibstadt bestimmten Transformer der Séchéron in Genf. (Juli 1978)
  • Das Modell des AKW Gösgen im Besucherpavillon innerhalb der Sicherheitszone wird durch Brandstiftung zerstört. (Juli 1978)
  • «Do it yourself» sprengt den Informationspavillon des AKW Kaiseraugst in die Luft, nachdem am gleichen Wochenende die Initiative „Wahrung der Volksrechte und der Sicherheit beim Bau und Betrieb von Atomanlagen“ abgelehnt worden ist. (Februar 1979)
  • Drei Sprengkörper zerstören ein Materiallager innerhalb der Umzäunung des in Bau befindlichen AKW Leibstadt. (Februar 1979)
  • Der Chevrolet Camaro von „Atompapst“ Michael Kohn brennt in der Garage seines Wohnsitzes aus. Am gleichen Wochenende findet die Abstimmung über das revidierte Atomgesetz statt; die Vorlage wird angenommen. (Mai 1979)
  • Brandsätze zerstören und beschädigen die Autos von acht weiteren Vertretern der „Atomlobby“ in der Deutschschweiz und im Tessin. (Mai 1979)
  • Auch in der Westschweiz brennen die Autos zweier Vertreter der „Atomlobby“. (Juni 1979)
  • Die Anti-AKW-Bewegung blockiert den Transport des neuen Séchéron- Transformers für das AKW Leibstadt. (Oktober 1979)
  • Sprengung des Meteomastes beim AKW Gösgen. Der Mast stürzt in die Transformatorenanlage, und das AKW muss abgeschaltet werden. Die Telefonleitung, über welche die Bevölkerung hätte alarmiert werden sollen, fällt aus. (November 1979)
  • Der Meteomast des geplanten AKW Graben (BE) fällt um. Die Halteseile sind durchgesägt worden. Sprengung eines Hochspannungsmastes der NOK an der liechtensteinischen Grenze bei Fläsch. (November 1979)
  • Sprengstoffanschlag auf die Trafo-Unterstation «Sarelli» der NOK bei Bad Ragaz. René Moser und Marco Camenisch werden später als Täter zu siebeneinhalb respektive zehn Jahren Gefängnis verurteilt. (Dezember 1979)
  • Brandanschlag auf den Landsitz eines Basler „Atomlobbyisten“ in Münchenstein. (Januar 1980)
  • Der Bundesrat bejaht den Bedarf des AKW Kaiseraugst. 20 000 AKW-Gegner demonstrieren auf dem AKW-Gelände in Kaiseraugst. (Oktober 1981)
  • Molotowcocktails gegen die NOK und Motor Columbus in Baden. Ein Brandanschlag auf das Ferienhaus des damaligen Nagra-Chefs Rudolf Rometsch in Grindelwald misslingt. (November 1981)
  • Der NOK-Mast bei Fläsch wird erneut gesprengt. (November 1981)
  • Im Jura misslingt die Sprengung eines Mastes der Exportleitung Gösgen-Fessenheim. (Dezember 1981)
  • Ein Mast der Exportleitung Mühleberg-Malville wird in der Nähe von Mühleberg gesprengt. (Februar 1982)
  • Ein Mast der Exportleitung der Atel wird im Tessin in der Nähe von Quartino gesprengt. (August 1982)
  • Vor dem Ständeratsentscheid zu Kaiseraugst werden zwei Masten der Exportleitung Fessenheim-Kaiseraugst bei Rheinfelden (AG) und Pratteln (BL) angegriffen. Die Sprengung des ersten Mastes misslingt, bei der Sprengung des Mastes in Pratteln stürzt ein kleinerer Mast um, die Kabel zerreissen und beschädigen die Dächer einiger Häuser. (Januar 1983)
  • Den 25 Ständeräten des atomfreundlichen Schweizerischen Energieforums wird je eine Sprengstoff-Kerze ins Bundeshaus geschickt. Das Bundeshaus wird wegen Bombenalarms geräumt. (Februar 1983)
  • Eine Hochspannungsleitung des AKW Gösgen wird kurzgeschlossen. (März 1983)
  • Missglückter Sprengstoffanschlag auf den Richtstrahlmast der Schweizer Elektrizitätswerke in Wölflinswil (AG). Die AKW-Saboteure schlagen ein Stillhalteabkommen «kein AKW - kein Attentat» vor. (September 1983)
  • Das Ferienhaus des damaligen Nagra-Chefs Rudolf Rometsch in Grindelwald brennt nieder. Die Saboteure dokumentieren den Anschlag in dem als Computerspiel aufgemachten Video «Atomic-Rometsch». (August 1984)
  • Mit einem schriftlichen Interview verabschieden sich die AKW-Saboteure: „Es ist an der ‚No-Future’-Generation, ihre Zukunft in die Hand zu nehmen.“ (August 1984)
  • Die Initiative «Zukunft ohne weitere Atomkraftwerke» und die Energieinitiative werden abgelehnt. (September 1983)
  • AKW-Katastrophe in Tschernobyl. (April 1986)
  • Kaiseraugst-Verzicht. (März 1988)
  • Die Initiative für ein AKW-Moratorium bis zum Jahr 2000 wird angenommen. (September 1990)
Die diese Woche neu erlebte Form des antinuklearen Ökoterrorismus hat also in der Schweiz eine lange Tradition, die während der Moratoriumsjahre bloss etwas in Vergessenheit geraten ist. Wir werden in den kommenden Wochen und Monaten leider mehr davon sehen, da bin ich sicher.

Ich verurteile diese Form von Umweltaktivismus ausserhalb der Legalität auf das Schärfste.

Ob der gegenwärtige Streit von SP Schweiz und Grünen um den Primeur-Anspruch auf den Atomausstieg die richtige Antwort auf diese Militanz ist, lasse ich einmal als Frage dahin gestellt.

    Sonntag, 20. März 2011

    Kann das bei uns auch passieren?

    Vor einer Woche habe ich in meinem Beitrag über die Naturkatastrophe in Japan die Frage aufgeworfen, ob im Abklingbecken des havarierten Reaktors Fukushima-Daiichi-1 zum Zeitpunkt der Wasserstoffexplosion Brennstoff zwischengelagert wurde und wenn ja, wie es wohl darum stehe.

    Die Entwicklungen der vergangen Tage am Standort Fukushima Daiichi haben gezeigt, dass die Frage sehr berechtigt war.

    Häufiger aber wurde ich zwischenzeitlich mit der Frage konfrontiert, ob „das“ auch bei uns in der Schweiz passieren könnte. Gegenstand der Frage war natürlich der Störfall im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi unter Katastrophenbedingungen, wie sie in Japan geherrscht haben: Ein schweres Erdbeben gefolgt von einer schrecklichen Flutwelle. Im Rampenlicht der hiesigen Medien stand dabei jeweils das KKW Mühleberg nach einem hypothetischen Dammbruch am Wohlensee.

    Wie die Nachrichtenagentur NucNet heute berichtet, betrug die Erschütterungsintensität des Erdbebens vom 11. März 2011 am Standort Fukushima Daiichi 507 Gal (cm/s2). Das Werk war aber ausgelegt auf maximale Beschleunigungen von lediglich 449 Gal. Die anschliessende Flutwelle erreichte offenbar im Gebiet der Präfektur Fukushima eine Höhe von 23 Metern, während das Werk bloss auf Wasserwalzen von 10 Metern ausgelegt war.

    Viel offensichtlicher als die Frage, weshalb die Auslegungskriterien des KKW Fukushima Daiichi bei dessen Bau nicht konservativer gewählt worden waren, erachte ich die Frage nach den Auslegungskriterien der restlichen Siedlungsinfrastruktur in der Präfektur. Immerhin hat diese Infrastruktur bei ihrem Kollaps unter der Wucht von Erdbeben und Tsunami ja nach aktuellen Schätzungen gegen 15‘000 Menschen unter sich begraben.

    Ebenso ist zu fragen, was unter den konkreten Bedingungen einer hypothetischen Naturkatastrophe, die das KKW Mühleberg ernsthaft gefährden könnte, von der Infrastruktur unserer Bundeshauptstadt noch stehen würde bzw. was der supponierte Dammbruch am Wohlensee an direkten Schäden ausserhalb des Werkgeländes verursachen würde.

    Mich irritiert noch immer und zunehmend, dass die in den westlichen Medien angestellten Überlegungen sich ausschliesslich um die beobachteten oder allenfalls zu erwartenden Schäden an KKW hüben und drüben drehen. Die hypothetische Evakuation von Tokio oder Bern in der Folge von Reaktorschäden beschäftigt mehr als die effektive Auslöschung ganzer Landstriche als direkte Wirkung der Naturereignisse. Kurz: Die vernichtenden, direkten Auswirkungen einer Naturkatastrophe werden in der Berichterstattung und damit in der öffentlichen Wahrnehmung den indirekten und bisher vergleichsweise geringen Schäden der Kerntechnik untergeordnet.

    Solange wir bei einem hypothetischen Erdbeben der Stärke 9.2 auf der Richterskala in der Schweiz gefolgt von einem Staudammbruch und einer 23 Meter hohen Flutwelle zuerst an Mühleberg denken, begehen wir womöglich denselben Fehler wie die Japaner, die unter ihrer Küstenbevölkerung Tausende von Todesopfern zu beklagen haben, während von den Reaktorblöcken von Fukushima immerhin noch so viel steht, dass es sich darum zu kämpfen lohnt.

    «Japan wird sich erholen» – und die USA?

    In der heutigen Ausgabe der NZZ am Sonntag befragt Redaktorin Charlotte Jacquemart den US-Anlagespezialisten Dan Roberts von MacKay Shields: „Der grösste Bond-Investor Pimco hat alle US-Staatsanleihen verkauft. Hat Sie das überrascht?“ Antwort Roberts: „Ich kenne die Gründe nicht.“ Auf die Frage, ob ein Aufschwung angesichts der dramatischen Ereignisse in Japan überhaupt noch stattfinden könne, ortet Roberts zwar kurzfristig Rückschläge. Aber Japan werde sich als hochentwickeltes Land erholen.

    In derselben Ausgabe sagt NZZ-Redaktor Markus Städeli Japan „nach dem atomaren das wirtschaftliche Debakel“ voraus. Eine schrumpfende und alternde Gesellschaft sowie explodierende Staatsschulden führten unweigerlich zu einem dramatischen wirtschaftlichen Abstieg Nippons. Dazu wäre es ohnehin gekommen. Die aktuelle Umweltkatastrophe beschleunige bloss das Unvermeidliche.

    Ich lasse den Widerspruch einmal unkommentiert stehen. Vielleicht haben Sie sich in den letzten Tagen der japanischen Krise wie ich gefragt, was dem Yen unter diesen Bedingungen zu seinem Höhenflug verholfen hat. Intuitiv hätte ich das Gegenteil erwartet. Erklären kann ich mir das bloss mit der Vorstellung, dass in bedeutendem Ausmass Kapital vom Ausland nach Japan fliesst.

    Dass dort riesige Investitionssummen für den Wiederaufbau benötigt werden, ist wohl anzunehmen. Aber nachdem die japanischen Staatsschulden gemäss NZZ-Bericht bereits heute auf 225% der jährlichen Wirtschaftsleistung angestiegen sind und weiter auf 600% des Bruttoinlandprodukts anzuwachsen drohen, wird das Land auf seine Auslandinvestitionen zurückgreifen müssen, um den Investitionsbedarf im Inland decken zu können.

    Erschreckenderweise ist Japan heute der zweitgrösste ausländische Gläubiger der USA, gleich nach China. Nach der offiziellen Statistik der amerikanischen Notenbank hielt Japan Ende Januar 2011 US-Staatsanleihen im Wert von USD 886 Milliarden, nach China mit USD 1‘155 Milliarden. Das Fed selbst hielt gleichzeitig US-Staatspapiere im Wert von USD 1‘125 Milliarden.

    Erschreckend an dieser Feststellung ist die Perspektive, dass ein Abzug japanischer Kapitalanlagen aus den USA die drohende US-Schuldenkrise dramatisch beschleunigen könnte. China hat schon länger angekündigt, seine Devisenreserven umschichten zu wollen, damit aber gezögert, um seinen wichtigen Absatzmarkt in den USA nicht zu gefährden. Japan wird diese Skrupel zwar grundsätzlich teilen, in der aktuellen Ausgangslage aber möglicherweise keinen anderen Weg sehen, als sich unter Inkaufnahme von Kursverlusten von einem Teil seiner US-Anlagen zu trennen.

    Vor diesem Hintergrund ist der frühere US-Präsidentenberater Dan Roberts unglaubwürdig, wenn er heute anführt nicht zu wissen, weshalb sich der weltgrösste Rentenfonds Pimco im Februar aus den amerikanischen Staatsanleihen geflüchtet hat. Dessen Manager Bill Gross hatte aus den Gründen für seinen Ausstieg ja kein Geheimnis gemacht.

    Möglichweiser stehen wir am Einstieg auf eine sich rasch drehende Abwärtsspirale der US-Schuldtitel, angetrieben von einer überbordenden Verschuldung in den USA und Japan und beschleunigt durch den krisenbedingten Rückzug Japans aus diesen Anlagen.

    Wem das noch keine Sorge bereitet, mag sich vor Augen halten, dass auch die Schweiz Ende Januar 2011 US-Staatsanleihen im Wert von USD 108 Milliarden hielt, fast doppelt so viel wie Deutschland und fast viermal so viel wie Frankreich.

    Sonntag, 13. März 2011

    Weiterreden über tödliche Dinge

    In den aktuellen Medienberichten aus dem Erdbeben- und Tsunami-Katastrophengebiet in Japan dominiert die Angst vor der nuklearen Katastrophe. Sogar die NZZ lässt sich in der heutigen Sonntagsausgabe zum Aufmacher „Japan am Rand von Atom-Desaster“ hinreissen. Jetzt reden wir also wieder über die tödlichen Dinge: Strontium, Cäsium, Radioaktivität, die „Atomexperte“ Stefan Füglister von Greenpeace so gern in den Schlagzeilen sieht, weil sie Ängste und damit Aversionen gegen die Kerntechnik schüren oder zumindest bestätigen.

    Tatsache ist, dass es sich bei den Ereignissen in Japan um eine Naturkatastrophe handelt, bei der mehr als zehntausend Menschen ihr Leben verloren haben. Nach heutigem Wissensstand ist in der Folge dieser Naturkatastrophe kein Mensch durch nukleare Einwirkung zu Tode gekommen, und ich hege die Hoffnung und wage die Voraussage, dass es dabei bleiben wird.

    Die wirkliche Tragödie, der das mediale Augenmerk, unsere Sorge und Anteilnahme gebühren, findet in Japan nicht in und um die Kernkraftwerke statt, auch wenn einzelne davon beschädigt sind, sondern in jenen Krisengebieten, die vom Erdbeben und der darauf folgenden Springflut buchstäblich dem Erdboden gleich gemacht worden sind. Wesentlich für die Krisenbewältigung wäre auch die Frage, wie es mit der Stromversorgung im Land aussieht und mit jenen Kraftwerken, die zurzeit keine Schlagzeilen machen.

    Die wirklich relevanten Aspekte des aktuellen Geschehens in Japan werden in der medialen Berichterstattung überschattet durch ein herbeigeredetes Atom-Desaster im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi. Von den sechs Reaktoren dieses Werks waren drei zum Zeitpunkt des Erdbebens vom 11. März für geplante Revisionsarbeiten ausser Betrieb. Die anderen drei reagierten auslegungsgemäss mit automatischen Schnellabschaltungen. In dieser Betriebsphase ist entscheidend, dass auch nach Unterbrechung der Kettenreaktion im Reaktorkern die Nachzerfallswäre abgeführt werden kann. Andernfalls überhitzt der Kern und die Kernbrennstäbe nehmen Schaden, was zu einer Kontamination des geschlossenen Kühlkreislaufs mit Spaltprodukten führen kann.

    Die Nachwärmeabfuhr bedingt einen aktiven Kühlkreislauf mit elektrischen Pumpen, die im vorliegenden Fall anfänglich von Diesel-Notstromaggregaten angetrieben worden waren. Aus noch ungeklärten Gründen, aber wahrscheinlich infolge Überflutung durch den Tsunami, fielen die Notstromaggregate im Reaktorblock 1 nach etwa einer Stunde Betriebszeit aus. An ihrer Stelle übernahmen Batterien vorübergehend die Stromversorgung der Pumpen, bis zusätzliche mobile Dieselaggregate auf das Werksgelände geschafft werden konnten.

    Dennoch scheint es zumindest im Reaktorblock 1, wahrscheinlich aber auch im Block 3, zu Brennstoffschäden gekommen zu sein. Fukushima-Daiichi-1 ist nach Angaben der Internationalen Atomenergieorganisation, IAEO, ein Siedewasserreaktor des Typs BWR/3 von General Electric mit einer elektrischen Nettoleistung von 439 MW. Er steht seit März 1971 in Betrieb und gilt nach heutigen Massstäben als kleiner Reaktor.

    Der BWR/3 verfügt offenbar über ein Mark-I-Containment, d.h. über eine Sicherheitsumhüllung aus Stahl und Beton. Die folgende schematische Darstellung des Mark-I-Containments stammt aus einer Publikation der amerikanischen Sicherheitsbehörde US Nuclear Regulatory Commission, NRC.





    Medienberichten zufolge ist oberste Teil des Reaktorgebäudes von Fukushima-Daiichi-1 bei einer Wasserstoffexplosion abgesprengt worden. Der illustrativste Bericht dazu stammt von der New York Times. Wasserstoff bildet sich in geringem Ausmass bei laufendem Betrieb in der Kernzone eines Siedewasserreaktors, kann aber auch das Reaktionsprodukt von überhitzter Brennstoffummantelung mit dem Kühlwasser sein. Weiter wird Wasserstoff in der Turbinenhalle zur Kühlung des Generators verwendet. Die genauen Umstände dieser Explosion und die allfällige Quelle des Wasserstoffs sind zurzeit noch unbestätigt.

    Wie das oben stehende Schema zeigt, befindet sich oben im Reaktorgebäude ein Zwischenlagerbecken für abgebrannten Brennstoff. Beim Betrachten der beschädigten Gebäudehülle von Reaktorblock 1 stellt sich die Frage, ob sich zum Zeitpunkt der Explosion darin Brennstoff befunden hat und wenn ja, wie es darum steht.

    Wesentlich ist die Aussage des japanischen Betreibers der Anlage Fukushima Daiichi, TEPCO, dass die Sicherheitshüllen (Containments) der Blöcke 1, 2 und 3 intakt sind – die Explosion in Block 1 hat sich ausserhalb der Sicherheitshülle ereignet. Auch wenn es zu Brennstoffschäden gekommen sein sollte, und dafür sprechen die Indizien, halten damit als zweite Barriere der Reaktorbehälter (im obigen Schemabild braun) und als dritte Barriere die birnenförmige Sicherheitshülle aus Stahl und Beton.

    Gemäss üblicherweise sehr zuverlässigen Berichten der Nachrichtenagentur NucNet haben bei den Blöcken 1 und 3 kontrollierte Druckentlastungen der Containments stattgefunden und in beide Reaktoren wird Meerwasser unter Zugabe von Bor als Neutronenfänger zur Notkühlung eingespiesen. Das dürfte zielführend sein, aber für beide Reaktoreinheiten das definitive Ende ihrer 40-jährigen Betriebsphase bedeuten.

    Der von den Medien und „Atom-Experten“ immer wieder bemühte Vergleich der jetzigen Situation in Japan mit dem Reaktorunfall 1986 von Tschernobyl ist sachlich falsch. Er dient allein der Angstmache. Zutreffend ist hingegen der Vergleich mit dem schweren Störfall von 1979 im US-Kraftwerk Three Mile Island. Der damalige Vorfall wurde auf der Schweregrad-Skala Ines (International Nuclear Event Scale) als „Unfall mit Gefährdung der Umgebung“ eingestuft (Stufe 5). Die aktuelle Situation in Fukushima Daiichi gilt demgegenüber vorerst als „Unfall ohne signifikante Gefährdung der Umgebung“ (Stufe 4).

    Zuverlässige Informationsquellen über die weitere Entwicklung der Situation in den japanischen Kernkraftwerken sind: