In einem vom Thuner Tagblatt eingeladenen Streitgespräch mit meinem grünen Stadtratskollegen Thomas Hiltpold habe ich kürzlich die 2000-Watt-Gesellschaft als Traum, bestenfalls als Vision, für die Schweiz bezeichnet, aber nicht als eine realistische Zielsetzung. Denn wie im Projektmanagement oder der Personalführung sollen auch in der Politik die gesetzten Ziele spezifisch, messbar, akzeptiert, realistisch, terminiert – eben SMART – sein. Als politische Zielsetzung für die Schweiz erfüllt die 2000-Watt-Gesellschaft mehrere dieser Kriterien nicht.
Die Vorstellung von einer 2000-Watt-Gesellschaft sieht einen maximalen Primärenergieverbrauch von 17’500 Kilowattstunden pro Person und Jahr vor (2000 Watt multipliziert mit 8760 Jahresstunden). Das entspricht heute etwa dem globalen Durchschnittsbedarf eines Menschen. Darin sind alle energierelevanten Aktivitäten enthalten, d.h. der Energieverbrauch für Wohnen und Arbeiten, zur Herstellung von Gütern und Nahrungsmitteln, Betrieb von Infrastruktur, Stromverbrauch sowie Energieverbrauch für Mobilität (Auto, Flugzeug, öffentlicher Verkehr). Einzubeziehen sind auch der – politisch gerne vergessene – Verbrauch von importierten Gütern und der darin enthaltenen grauen Energie.
Wo stehen wir diesbezüglich heute? In der Schweiz liegen wir derzeit bei rund 5000 Watt, und das ohne graue Energie, die noch einmal knapp 4000 Watt ausmacht. Ein grosser Teil der Menschheit
muss dagegen mit weniger als 1000 Watt pro Kopf auskommen. Der Traum von der 2000-Watt-Gesellschaft handelt also von der Senkung unseres Primärenergieverbrauchs auf rund einen Fünftel.
Der Kanton Bern strebt gemäss seiner Energiestrategie 2006 bis ins Jahr 2035 die „4000-Watt-Gesellschaft“ an. Das entspricht gerade etwa dem heutigen Konsum an importierten Waren. Wir hätten daneben weder gewohnt, gearbeitet, gegessen, noch gebauert, gebaut oder gereist. Und diesen Wert gälte es für eine 2000-Watt-Gesellschaft noch zu halbieren.
Was also ist dieser Wert von 2000 Watt wirklich? Die Berner Energiestrategie bezeichnet ihn als „Fernziel“. Die Stadt Zürich, die schon länger ein umfassendes Nachhaltigkeitsmonitoring betreibt, und deren jüngere Nachhaltigkeitswerte seit Jahren stagnieren, schreibt in ihrem letzten Nachhaltigkeitsbericht: „Die Zürcher Bevölkerung ist auch bei weitem noch keine 2000-Watt-Gesellschaft. Dafür ist ihr Ressourcenverbrauch deutlich zu hoch.“ Aber Zürich sei dennoch „ambitioniert unterwegs“.
Ich meine, wir sollten mit dem Begriff der 2000-Watt-Gesellschaft sehr vorsichtig umgehen. Entscheidend sind nicht die 2000 Watt allein, sondern ist auch, wie sie erzeugt werden.
Wir brauchen mehr Energieeffizienz, Sparmassnahmen und neue Technologien. Bis 2050 werden wir damit unseren Verbrauch sozial verträglich jedoch höchstens um ca. 30% senken können. Dass wir 2000 Watt pro Kopf nicht erreichen, ist aber für das Klima nicht entscheidend. Angesichts des Klimawandels müssen wir vor allem die CO2-Emissionen möglichst rasch senken. Das langfristige Ziel liegt bei einer Tonne CO2 pro Kopf und Jahr oder 500 Watt pro Kopf aus fossilen Quellen. Das ist etwa 6 Mal weniger als heute und erfordert grosses Umdenken und den Einsatz aller nichtfossilen Energieträger. Die 2000-Watt-Gesellschaft soll dabei als langfristiger Wegweiser dienen – als Ausdruck unserer Ambitionen, Wohlstand und nachhaltige Energieversorgung unter einen Hut zu bringen. Sie ist ein Traum – auch meiner – der so wegweisend sein kann wie 1963 jener von Martin Luther King.
Gemäss revidiertem kantonalem Energiegesetz müssen die grösseren Gemeinden im Kanton Bern innerhalb von 10 Jahren einen Richtplan Energie vorlegen. Die Gemeinden Thun, Steffisburg, Heimberg und Uetendorf haben sich entschlossen, gemeinsam einen überkommunalen Richtplan Energie zu erarbeiten. Damit sollen Raumentwicklung und Energienutzung besser aufeinander abgestimmt, die Energieeffizienz erhöht, die erneuerbaren Energieträger gefördert und die Leitlinien der künftigen Energieplanung für die vier Gemeinden festgelegt werden. Gemäss Baugesetz ist der Richtplan für die Gemeindebehörden verbindlich.
Die Mobilität bzw. der Energieverbrauch für den privaten und öffentlichen Verkehr ist nicht Gegenstand des überkommunalen Richtplans Energie. Dies entspricht den kantonalen Vorgaben und ist darin begründet, dass die Kompetenzen für den Energieverbrauch von Fahrzeugen beim Bund liegen und nicht beim Kanton oder den Gemeinden.
Der überkommunale Richtplan besteht aus drei Teilen: der Richtplankarte, den Massnahmenblättern und den zugehörigen Erläuterungen. Die Massnahmenblätter enthalten die grundlegenden Angaben für die Umsetzung des Richtplans Energie. Jede Massnahme ist in einem separaten Massnahmenblatt beschrieben. Das Massnahmenblatt Nr. 28 beschreibt ein Förderprogramm, dessen Gegenstand als „Förderung erneuerbare Energien, Reduktion Energiebedarf und Steigerung der Energieeffizienz in Ergänzung zu Förderprogrammen von Bund und Kanton“ umschrieben wird. Zur Finanzierung dieses Förderprogramms hat der Thuner Gemeinderat dem Stadtrat an dessen Sitzung vom 13. Dezember 2013 die Schaffung eines überkommunalen Förderfonds Energie beantragt. Geäuffnet hätte er werden sollen über eine Förderabgabe von 0.7 Rp./kWh auf den Stromlieferungen in den Gemeinden Thun, Steffisburg und Heimberg. Die Gemeinde Uetendorf hätte den Fonds aus den schon bisher erhobenen Abgaben gespeist.
Der Thuner Stadtrat hat die Schaffung dieses Fonds abgelehnt. Auch ich habe dagegen votiert und dagegen gestimmt, und zwar mit dieser Begründung:
- Das Förderprogramm gemäss Massnahmenblatt Nr. 28 ist mit einer Ablehnung nicht grundsätzlich in Frage gestellt, geschweige denn der Richtplan als Ganzes.
- Das Wirkungs-/Aufwandverhältnis der vorgesehenen Massnahme wäre zu schlecht. Sie würde als Tropfen verdunsten, noch bevor sie den heissen Stein erreicht.
- Die öffentliche Intervention ist nicht gerechtfertigt angesichts der auch ohne diesen Eingriff erzielten Verbesserungen in Energieeffizienz und erneuerbaren Energien.
Der „Energy Transformation Index (ETI)“ erlaubt es, nationale Fortschritte beim Umbau des Energieversorgungssystems hin zu mehr erneuerbaren Energien und Energieeffizienz zu messen und vergleichbar zu machen. Die hierzulande im Laufe der letzten 20 Jahre erzielten signifikanten Verbesserungen der Energieeffizienz machen uns in dieser Hinsicht zum Weltmeister.
Bei der Debatte um die Ausgestaltung der künftigen Energiepolitik entsteht zuweilen der Eindruck, dass der angestrebte Umbau der Energieversorgung eine Erfindung der Post-Fukushima-Ära sei. Dabei wird verkannt, dass sowohl der Ausbau der erneuerbaren Energien als auch die Verbesserung der Energieeffizienz bereits seit geraumer Zeit Realität sind. Vor allem ihre Energieeffizienz hat die Schweiz dank der Massnahmen der Wirtschaft markant verbessert. Anlass genug, den Fokus auf die Optimierung dieser bewährten Instrumente zu richten, anstatt jeweils reflexartig neue Regularien und Lenkungen zu schaffen.
Im Mai 2011 hat der Bundesrat entschieden, unsere fünf bestehenden Kernkraftwerke am Ende ihrer Betriebsdauer stillzulegen und nicht durch neue Kernkraftwerke zu ersetzen. National- und Ständerat haben sich diesem Grundsatzentscheid angeschlossen. Diese Stossrichtung erhöht einerseits den Anteil regenerativer Energien am Mix, erschwert andererseits aber klar die Erreichung des oben erwähnten Klimaschutzziels. Im Gegensatz zu früheren Atomausstiegsinitiativen, die alle vom Volk an der Urne verworfen worden sind, ist die neue Energiestrategie 2050 des Bundes bislang an keiner Volksabstimmung geeicht. Sie scheint aber einem politischen Konsens zu entsprechen, dem ich mich persönlich keineswegs entziehe.
Auf dem vermutlich steinigen Weg entlang dieser Energiestrategie sind auf jeden Fall und mit aller Vorsicht die Fehler zu vermeiden, welche die bundesdeutsche Energiewende auszeichnen:
- Ungebremste Subventionierungskosten (in Deutschland bis zu einer Billion Euro, nämlich rund EUR 700 Mrd. für den Ausbau der erneuerbaren Energien, weitere EUR 300 Mrd. für den notwendigen Netzausbau)
- Die Stromschwemme von hochsubventioniertem Solarstrom macht Investitionen in neue Pufferanlagen (Gaskraftwerke, Pumpspeicherwerke) unrentabel. Stattdessen feiert die Kohle ein Comeback, vor allem die besonders klimaschädlichen Braunkohle-Kraftwerke laufen auf Hochtouren.
- Dank gesetzlichem Einspeisevorrang von „grünem“ Strom Verdrängung von klassischen Kraftwerken, die für die Versorgung mit Grundlaststrom unentbehrlich sind.
- Vernachlässigung der europäischen Dimension: Nationale Massnahmen zeitigen internationale Folgen.
Der besonnene Gang entlang der neuen Energiestrategie 2050 schliesst einen forcierten Ausstieg aus der Kernenergie aus, die bisher rund 40% unserer Stromversorgung sicherstellt. Insofern schreibe ich der Kernenergie in der Schweiz vorläufig eine Zukunft zu.
Belgiens neue Energieministerin Marie-Christine Marghem hat die Frage nach dem Atomausstieg ihres Landes bis 2025 diese Woche im Interview mit der flämischen Tageszeitung Het Laatste Nieuws so formuliert: „Celui qui prétend aujourd’hui que notre pays peut se passer de l’énergie nucléaire à moyen ou même à long terme, ment. Ou n’est pas réaliste.“