Sonntag, 10. August 2014

Thuner Wahlen 2014: Vom Umgang mit Minderheiten

Pünktlich auf das Ende der Sommerferien hin nimmt der Thuner Wahlkampf Fahrt auf. Stadtregierung und –parlament werden sich am 30. November 2014 einer Gesamterneuerungswahl für die Legislatur 2015-2018 stellen.

In der Gemeinderatswahl geht es grundsätzlich um die Nachfolge von Ursula Haller (BDP), die ihre politische Laufbahn abschliesst und sich nicht mehr zur Wiederwahl stellt.

Die Parteien der Fraktion der Mitte im Thuner Stadtrat (CVP, EVP, EDU und GLP) haben bereits im Dezember 2013 angekündigt, mit einer gemeinsamen Liste in den Gemeinderatswahlkampf steigen zu wollen. Die Ankündigung in diesen Tagen, dass diese Liste zwecks Reststimmenverwertung mit der Kandidatenliste der BDP verbunden werden soll, kommentiert mein SVP-Stadtratskollege Lukas Lanzrein am 6. August auf Facebook so:
"Wahlen in Thun: einige scheinen wohl ein bisschen nervös zu sein... BDP, CVP, GLP, EDU und EVP steigen gemeinsam in die Wahlen. Auf jedenfall hat es nun für alle etwas dabei: evangelikale Freikirchen, Katholizismus, Umweltschutz, Konservative Positionen, Liberalismus, etc. Wer hat noch nicht, wer will nochmal?!"
Auf meine Rückfrage hin, was seine Partei im anlaufenden Wahlkampf ihren Kontrahenten neben klischee-triefendem Spott wohl sonst noch entgegenzuhalten habe, antwortet er am 7. August auf Facebook: 
„Die substanzielle Analyse ist schnell gemacht: getroffene Hunde bellen. Du ganz persönlich wirst von dieser Sammelbecken-Übung profitieren und das Kunststück schaffen, als Vertreter einer unter 5%-Partei in die Stadtregierung gewählt zu werden. Gratuliere! Das ganze ist sicherlich legitim im Rahmen des Wahlsystems. Meine Kritik setzt auf der politischen Ebene an: hier erhärtet sich der Eindruck totaler Beliebigkeit. EDU und GLP vertreten komplett andere Vorstellungen von Staat und Gesellschaft, die EVP stimmt auf allen Stufen verlässlich als Linkspartei, CVP und BDP irren auf ihrem Machterhaltungstrip (Bundesrat!) herum, etc. Zusammengehalten wird Eure Mitte-Übung nur vom absoluten Willen zur Macht. Das ist legitim. Aber stringente Positionen und verlässliches Politisieren sehen anders aus!“
Diese „Wahlanalyse“ bedarf keines Kommentars. Ganz offensichtlich ist Jung-Stadtrat Lanzrein aber mit den politischen Verhältnissen in seiner Stadt schlecht vertraut. Sonst wüsste er, dass die enge politische Zusammenarbeit der Mitte seit Generationen Tradition und Bestand hat.

Die Fraktion der Mitte wurde am 23. Mai 1977 als damalige „Freie Fraktion“ (CVP, EVP und LdU) gegründet. Am 17. Januar 1989 nahm sie ihren heutigen Namen „Fraktion der Mitte“ an. Seither ist der Landesring der Unabhängigen 1994 aus dem Stadtrat ausgeschieden und national von der Bildfläche verschwunden. Die Fraktion der Mitte hatte aber als Partnerschaft von CVP und EVP Bestand und öffnete sich später der fraktionslosen EDU und der neu ins Parlament gewählten GLP.

Bereits am 7. Februar 1978 gründeten CVP, EVP und LdU den „Verein politische Minderheiten“ (VPM), um gemäss damaligem kantonalem Dekret über den Minderheitenschutz mit realistischen Erfolgsaussichten an den Thuner Gemeinderatswahlen teilnehmen zu können. Die Mitglieder der Freien Fraktion amteten jeweils als Vorstand des VPM. Zwischenzeitlich ist die Thuner Wahl- und Abstimmungsordnung mehrfach revidiert worden. Der VPM hat ausgedient. Die Gemeinderatswahlen erfolgen heute nach dem Nationalratsproporz.

Geblieben ist die Frage der Wahrnehmung von und des Umgangs mit politischen Minderheiten. Nahezu 20 Jahre lang habe ich mir im Rahmen von unzähligen Wahlgängen von Vertretern aller politischen Lager versichern lassen, ich würde zwar als valabler Kandidat für ein Exekutivamt wahrgenommen, gehöre aber offensichtlich der falschen Partei (CVP) an, um im Kanton Bern gewählt zu werden. Den Ruf des ewigen Kandidaten habe ich mir redlich verdient.

Umso bemerkenswerter ist der aktuelle Vorwurf in der oben zitierten „substanziellen Wahlanalyse“ von Lanzrein, meine Kandidatur sei getrieben „vom absoluten Willen zur Macht“, zumal die Vorhaltung von einem Vertreter der wählerstärksten Partei auf Platz und der mächtigsten Fraktion im Thuner Stadtrat ausgesprochen wird.

Wenn sich Lanzrein heute mit der seiner Partei eigenen Geringschätzung von Minderheiten über unsere „Mitte-Übung“ auslässt, dann verkennt er nicht nur die allgemeine Geschichte der politischen Institutionen unserer Stadt, sondern insbesondere auch jene Episode aus dem Jahr 2002, in der SVP und EDU gemeinsam den Verein „Bürgerliche Mitte Thun“ (BMT) gründeten, um damit der Fraktion der Mitte in den damaligen Gemeinderatswahlen die Mitte streitig machten. So viel zu stringenten Positionen und verlässlichem Politisieren. Der Verein BMT wurde übrigens bereits am 25. Februar 2003 wieder aufgelöst.

Die Einigung auf gemeinsame politische Positionen innerhalb unserer Fraktionsgemeinschaft aus CVP, EVP, EDU und GLP ist keine Errungenschaft, auf der sich ausruhen liesse. Als Präsident dieser gemeinsamen Fraktion der Mitte kenne ich die permanente Willensanstrengung, die zur Erreichung von Konsens nötig ist. Wir haben sie nun fast 40 Jahre lang gemeinsam aufgebracht und sind dieser Willensarbeit nicht müde. Hätte Lanzrein während seiner noch kurzen Verweilzeit im Thuner Stadtrat aufgepasst und auch den Minderheiten zugehört, dann wüsste er, dass die Einheitlichkeit im Abstimmungsverhalten der Fraktion der Mitte nicht geringer ist als jene der homogenen Einparteien-Fraktionen – allenfalls mit Ausnahme der SVP, die sich einer kadavergehorsamen Fraktionsdisziplin verschrieben hat, und deren Haltung in Sachgeschäften jeweils schon Tage vor den Stadtratsdebatten im Dunst einsamer Fraktionssitzungen unverrückbar zementiert wird. So viel zur Dialogfähigkeit politischer Parteien.

Entscheidend für die Regierungsfähigkeit in einer parlamentarischen Demokratie ist die Qualität der Zusammenarbeit von Exekutive und Legislative. Die beiden Polparteien SVP und SP besetzen aktuell 4 von 5 Sitzen im Thuner Gemeinderat und verfügen im Parlament über eine Hausmacht von je rund 25%. Dem fünften Mitglied in der Stadtregierung fällt damit die Aufgabe zu, die verbleibende Hälfte des Parlaments möglichst hinter sich zu scharen. Diese Parlamentshälfte setzt sich aus einer bunten Schar von kleineren Parteien zusammen: CVP, EVP, EDU, GLP, BDP, FDP und Grüne. Als Gemeinderatsanwärter und Fraktionspräsident der Mitte stelle ich mich dieser Aufgabe mit Zuversicht. So viel zum Machtanspruch der Mitte.

Die Aufstellung in den anstehenden Gemeinderatswahlen als gemeinsame Liste der Mitte in Verbindung mit der BDP ist ein klares Bekenntnis zum Pluralismus. Sie fusst auf der Überzeugung, dass Meinungsvielfalt wünschenswert sei und dass die konstruktive Auseinandersetzung mit anderen Meinungen in der Regel bessere und tragfähigere Lösungen hervorbringe als die als Regierungsform ungemein effizientere Diktatur.

Meine Partei, die CVP, ist in Thun im Alleingang bedeutungslos. Dasselbe gilt für alle unsere Fraktionspartner in der Mitte. Dessen sind wir uns durchaus bewusst. Alles, was wir politisch erreicht haben – und das ist nicht wenig – setzte Überzeugungsarbeit bei anderen Parteien voraus. Dass das politische Klima in Thun gemeinhin als gut beurteilt wird und die lokalen politischen Entscheide häufig einvernehmlich fallen, ist nicht als Verdienst der grossen Polparteien zu sehen, die einander in ihren zwar grossen, aber ähnlich grossen Lagern häufig gegenseitig blockieren.

Rund die Hälfte des Thuner Stadtparlaments ist traditionell ein parteimässig bunt gemischter Haufen. Die konstruktive Auseinandersetzung mit diesem Fakt ist Voraussetzung für erfolgreiches Regieren in unserer Stadt. Diese Art von Auseinandersetzung beginnt mit Respekt – einer Tugend, die Lanzrein und seine Parteikollegen zuweilen vermissen lassen.