Montag, 21. Oktober 2013

SVP-Familieninitiative: Am Ziel vorbei und widersprüchlich

Politische Parteien verfolgen teilweise recht unterschiedliche und nicht selten einander gegenläufige Zielsetzungen. Erstaunliche Einigkeit aber herrscht im Schweizer Parteienspektrum seit rund 10 Jahren im Bestreben die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern. Dafür sprechen gute Gründe:
  • Mit einer Erwerbsquote von 77% ist heute die klare Mehrheit der Mütter mit Kindern unter 15 Jahren in der Schweiz erwerbstätig (junge Frauen in Ausbildung sowie Pensionierte ausgeklammert; gemäss SAGW).
  • Mehr als die Hälfte der erwerbstätigen Frauen arbeitet Teilzeit; damit nehmen sie vielfach tiefere Löhne, ungesicherte Arbeitsverhältnisse, schlechtere soziale Absicherung und eingeschränkte Berufs- und Karrierechancen in Kauf.
  • Die Schweiz überbrückt ihren Arbeitskräftemangel schon heute durch Zuwanderung.
  • Der demographische Wandel unserer Gesellschaft wird diesen Mangel in Zukunft noch dramatisch verschärfen.
  • Die effektive Geburtenrate der Schweiz ist schon lange nicht mehr generationenerhaltend. Ohne deutlichen Geburtenzuwachs werden wir aussterben.
  • Die Mehrheit der Familienhaushalte ist auf einen Doppelverdienst angewiesen.
  • Erwerbstätigkeit beider Elternteile macht einen Haushalt robuster gegenüber den Krisen, die ihn ereilen können und die da sind: Trennung oder Scheidung der Eltern, Arbeitslosigkeit, Unfall oder Krankheit eines Elternteils. Sie stärkt die eigenverantwortliche Existenzsicherung und macht unabhängiger von der Sozialhilfe.
  • Fernbleiben der Mütter vom Erwerbsleben macht getätigte Bildungsinvestitionen zunichte und ist volkswirtschaftlich gesehen ein Verlust.
Unsere Gesellschaft inklusive der Wirtschaft ist also in zunehmendem Ausmass auf erwerbstätige Frauen und insbesondere Mütter angewiesen.

Die Familieninitiative der SVP, die am 24. November 2013 zur Volksabstimmung kommt, geht leider nicht von dieser Realität aus, sondern von einer postulierten Gleichberechtigung progressiver und konservativer Betreuungsideologien. Sie ist ideologisch motiviert, entzieht sich den gesellschaftlichen Realitäten und führt damit am Ziel vorbei.

Dass die Initiative auch ausserhalb der SVP, insbesondere in den Reihen der CVP, auf eine gewisse Resonanz stösst, mag am – für einmal – gemässigten Auftritt der Initianten liegen. Die SVP verzichtet in diesem Abstimmungskampf auf plakative Polemik mit tränenüberströmten „Staatskindern“. Der Initiativtext will die Bundesverfassung lediglich um diese Bestimmung ergänzen:
Eltern, die ihre Kinder selber betreuen, muss für die Kinderbetreuung mindestens ein gleich hoher Steuerabzug gewährt werden wie Eltern, die ihre Kinder fremd betreuen lassen.
Diesem Anspruch lässt sich Folge leisten, indem
  • entweder auf den auf Bundesebene und in den meisten Kantonen eingeführten Fremdbetreuungsabzug wieder verzichtet wird
  • oder ein zusätzlicher, aber nicht kumulierbarer, pauschaler Kinderabzug für alle Eltern mit Kindern unter 15 Jahren eingeführt wird.
Bei einer Streichung des Kinderbetreuungsabzugs wird der Doppelverdiener-Haushalt durch höhere Steuern sowie die effektiven Fremdbetreuungskosten finanziell stärker belastet. Bereits heute bestehen aber für viele Haushalte negative Erwerbsanreize: Eine Erhöhung der gemeinsamen Erwerbsquote führt dabei aufgrund der Ausgestaltung unserer Steuersysteme nach Abzug der Steuern zu einem geringeren verbleibendem Einkommen. Lohnt sich eine Ausweitung des Erwerbspensums finanziell für den Haushalt nicht, kann dies zu einem Fernbleiben insbesondere der Frau vom Erwerbsprozess führen. Dadurch verliert der Staat zusätzliche Steuereinnahmen und die Wirtschaft gut qualifizierte Arbeitskräfte.

Bei der Einführung eines zusätzlichen Kinderabzugs führt die Initiative zu einer steuerlichen Besserstellung von Einverdienerhaushalten, indem der Abzug nicht an effektive Betreuungsausgaben gekoppelt ist. Während der Doppelverdienerhaushalt sowohl das zusätzliche Einkommen versteuert als auch Ausgaben für die Fremdbetreuung hat, stehen beim Einverdienerhaushalt keine direkten Ausgaben gegenüber. Der Einverdienerhaushalt wird somit steuerlich bevorzugt. Nicht zu vergessen sind in diesem Szenario auch die substanziellen Steuerausfälle, die durch die Gesamtheit jener Haushalte aufgefangen werden müssen, die überhaupt Steuern bezahlen.

Die SVP-Familieninitiative tritt an mit dem Anspruch, die steuerliche Diskriminierung von Familien zu beheben, die dem traditionellen Ernährermodell – Vollzeit erwerbstätiger Partner und nicht erwerbstätige Partnerin – nachleben. Allein: Die Diskriminierung ist herbeigeredet, das Alleinernährermodell bereits heute Minderheitsmodell und in der Breite nicht zukunftsfähig.

Der zunehmende Arbeitskräftemangel ist eine unausweichliche demografische Realität. Wir begegnen ihr bislang mit Immigration. Paradoxerweise ist es gerade die Initiantin, die sich zum Sprachrohr der Zuwanderungsgegner aufgeschwungen hat. Insofern ist die SVP-Familieninitiative nicht bloss nicht zielführend, sondern auch widersprüchlich: Welches andere Reservoir an qualifizierten heimischen Arbeitskräften soll sich der Schweiz denn noch erschliessen, wenn nicht jenes der noch nicht oder bloss Teilzeit erwerbstätigen Frauen?

Die Familieninitiative der SVP ist abzulehnen. Sie ist rein ideologisch motiviert und entzieht sich den gesellschaftlichen Realitäten.