„Natürlich ist es unmöglich, Atheist zu sein.“ Der Wissenschafter müsse glauben. Glauben zum Beispiel, dass seine Beobachtungen von heute auch für morgen gelten. Das sei der wunde Punkt des Beat M. Stadler, Berner Immunologe und Provokateur vom Dienst, der nichts so sehr hasse wie den Glauben, schreibt Thomas Zaugg in seinem Interview mit dem Titel „Der Anti-Christ“ in Die Zeit vom 27. August 2009. Seinen wissenschaftlichen Glauben dürfe er den Religiösen um Himmels willen nicht zugestehen. Man dürfe der Gegenseite nie einräumen, dass eine gewisse Form des Glaubens notwendig sei. Die Religiösen würden dann, fürchtet Stadler, nicht seinen kleinen Finger nehmen, sondern die ganze Hand. „Die Moderaten sind das Bett der Fundamentalisten“, sagt Stadler, und Religion sei heilbar. Sein Heilmittel ist der evolutionäre Humanismus, also der Versuch, wissenschaftliche Aufklärung und humanistische Ethik miteinander in Einklang zu bringen, unhaltbare Mythen zu entzaubern und die so gewonnenen Freiräume für die Etablierung neuer Spielregeln in der Ethik, der Politik, Ökonomie und Kultur zu nutzen, damit der Eigennutz des Einzelnen in humanere Bahnen gelenkt werden kann.
Als Moderate im Visier der Kritik stehen auch jene liberalen Christinnen und Christen, denen in den Augen von Stadler ganz offensichtlich das Gespür für die prinzipielle Unverträglichkeit von aufklärerischem und religiösem Denken fehlt. Im logisch inkonsistenten Amalgam von aufgeklärtem Denken und archaischem Glauben der „Weichfilter-Christen“ oder „Euro-Islamisten“ sieht er eine reale Gefahr, dass die fundamentalistischen Reintypen der Religionen, deren Bedrohungspotenziale aufgrund der so handzahmen religiösen „Light-Versionen“ gerne übersehen würden, mehr und mehr an Attraktivität gewinnen. Im Zuge eines weltweit erkennbaren Trends in Richtung eines konsequenteren Denkens und Handelns neigten offenkundig immer mehr Menschen dazu, entweder auf konsequentere Weise zu glauben oder aber sich aufgrund rationaler Argumente konsequenter gegen den Glauben zu entscheiden. Wer wirklich glauben will, so die Überzeugung der evolutionären Humanisten, wird sich kaum auf längere Sicht mit unverbindlichen Metaphern abspeisen lassen, und wer sich für eine humanere, aufgeklärtere Weltsicht engagiert, wird in Zukunft wohl eher das säkulare Original, nicht die halbgare religiöse Kopie bevorzugen.
Ist es Zufall, dass ich in diesen Tagen auf der Facebook-Pinnwand von Marc Jost, meines politischen Weggefährten, EVP-Grossrats, –Regierungsratskandidaten und Pastors des Evangelischen Gemeinschaftswerks Thun folgendes Zitat lese: „One hundred years from my day there will not be a Bible in the earth except one that is looked upon by an antiquarian curiosity seeker. (Voltaire 1694-1778)“? Marc stellt der durch Voltaire vertretenen Aufklärung ein weiteres Zitat des amerikanischen Religionswissenschafters Philip Jenkins („The Jesus Wars“) entgegen: „If you are the type of person who buys stocks and bonds, I'd buy Christianity. The price is very low... it has to go up.“ Dem schliesst Marc sein eigenes Glaubensbekenntnis an: “I believe in a post-secular Europe.“
Im Nachgang zur Volksabstimmung vom 29. November 2009 über die Minarettverbots-Initiative und in meiner persönlichen Aufarbeitung des konsternierenden Abstimmungsresultats haben mich Marc Josts Pinnwand-Einträge nicht mehr losgelassen. Sein Glaube an ein zukünftig postsäkulares Europa setzt ja eine weitgehende Säkularisierung unserer Gesellschaft voraus. In der formalen Trennung von Kirche und Staat und im greifbaren Relevanzverlust der Kirchen und Religionsgemeinschaften in den Bereichen Recht, Politik, öffentliche Wohlfahrt, Kultur, Erziehung und Wissenschaft ist eine solche Verweltlichung mindestens in Westeuropa tatsächlich erkennbar.
Dennoch wecken globale Veränderungen und die weithin sichtbaren Konflikte, die sich heute an religiösen Fragen entzünden, Zweifel am angeblichen Relevanzverlust der Religion. Nach Jürgen Habermas („Die Dialektik der Säkularisierung“, Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2008) sind es vor allem drei, einander überlappende Phänomene, die sich zum Eindruck einer weltweiten „resurgence of religion“ verdichten – die missionarische Ausbreitung der grossen Weltregionen, deren fundamentalistische Zuspitzung und die politische Instrumentalisierung ihrer Gewaltpotenziale, etwa im Regime der Mullahs im Iran und in der Form des islamischen Terrorismus.
Die Auseinandersetzung mit der Abstimmungsfrage zum Minarettverbot drängt unseren christlichen Bürgerinnen und Bürgern die Begegnung mit einer konkurrierenden Glaubenspraxis auf und bringt ihnen das Phänomen einer öffentlich in Erscheinung tretenden Religion deutlicher zu Bewusstsein. In diesem Kontext scheinen mir die Betrachtungen der niederländischen Autorin Margriet de Moor (zitiert von Habermas) zur Befriedung einer konfessionell gespaltenen Gesellschaft am Ende der Reformation interessant: „Toleranz wird oft im selben Atemzug mit Respekt genannt, doch unserer Toleranz, die ihre Wurzeln im 16. und 17. Jahrhundert hat, liegt kein Respekt zugrunde, im Gegenteil. Wir haben die Religion des anderen gehasst, Katholiken und Calvinisten hatten keinen Funken Respekt vor den Anschauungen der anderen Seite, und unser achtzigjähriger Krieg war nicht nur ein Aufstand gegen Spanien, sondern auch ein blutiger Dschihad der orthodoxen Calvinisten gegen den Katholizismus.“
Nach Habermas heisst Toleranz, dass sich Gläubige, Andersgläubige und Ungläubige gegenseitig Überzeugungen, Praktiken und Lebensformen zugestehen, die sie selbst ablehnen. Dieses Zugeständnis muss sich auf eine gemeinsame Basis gegenseitiger Anerkennung stützen, auf der sich abstossende Widersprüche überbrücken lassen. Habermas zufolge darf diese Anerkennung nicht mit der Wertschätzung der fremden Kultur und Lebensart, der abgelehnten Überzeugungen und Praktiken verwechselt werden. Toleranz brauchen wir nur gegenüber Weltanschauungen zu üben, die wir für falsch halten, und gegenüber Lebensgewohnheiten, die wir nicht goutieren. Anerkennungsbasis ist nicht die Wertschätzung dieser oder jener Eigenschaften und Leistungen, sondern das Bewusstsein, einer Gemeinschaft gleichberechtigter Bürger anzugehören, in der einer dem anderen für seine politischen Äusserungen und Handlungen Rechenschaft schuldet.
Die Abstimmung vom 29. November 2009 über Minarette, in der es eigentlich um Moscheen ging, förderte ein anderes Toleranzverständnis zu Tage. Auch in meiner Partei, der CVP, gab und gibt es Stimmen, die fordern, wir dürften die Augen, die uns das Stimmvolk nun geöffnet habe, nicht länger „vor dem herrschenden Malaise“ des Islam in der Schweiz verschliessen. Wenn eine politische Partei in der Schweiz gefordert und berufen ist, sich diesem Abstimmungsergebnis zu stellen, es zu analysieren und aufzuarbeiten, dann die Christlichdemokratische Volkspartei, die bereits im April 2006 ein Grundsatzpapier zur Religionsfreiheit und Integration am Beispiel der Musliminnen und Muslime der Schweiz, und bereits im Juni 2007 einen Leitfaden zum Umgang mit muslimischen Sakralbauten verfasst hat. Beide Papiere sind zwischenzeitlich leider etwas in Vergessenheit geraten, offensichtlich zuweilen sogar im Parteipräsidium.
In der Deutungsfrage von „Religion“ im 21. Jahrhundert bzw. der Interpretationsfrage einer „postsäkularen Gesellschaft“ beruft sich auch meine Partei gerne auf das bekannte Diktum des deutschen Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde, wonach der freiheitliche säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren kann. Damit sind Grundrechte, Menschenrechte und nicht zuletzt der Respekt der Menschenwürde gemeint – jene fragilen Rechtsgüter, die auch von der Zivilgesellschaft unterstützt und gefördert werden müssen. Die Kritik, mit diesem Postulat die ethische Kraft der Religion überzubetonen, konterte Böckenförde in einem Interview vom 23. September 2009 mit der deutschen Tageszeitung TAZ: „Diese Kritik übersieht den Kontext, in dem ich 1964 diesen Satz formuliert habe. Ich versuchte damals vor allem den Katholiken die Entstehung des säkularisierten, das heisst weltlichen, also nicht mehr religiösen Staates zu erklären und ihre Skepsis ihm gegenüber abzubauen. Das war also noch vor 1965, als am Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils die katholische Kirche erstmals die Religionsfreiheit voll anerkannte. In diese Skepsis hinein forderte ich die Katholiken auf, diesen Staat zu akzeptieren und sich in ihn einzubringen, unter anderem mit dem Argument, dass der Staat auf ihre ethische Prägekraft angewiesen ist.“
Für den erforderlichen und anstehenden Diskurs zur Rolle von Religion in unserer Gesellschaft wünsche ich mir etwas von der Erneuerungskraft und Aufbruchstimmung eines Zweiten Vatikanischen Konzils. In diesem Diskurs haben auch die Beda Stadlers dieser Welt ihren Platz – mit ihrem kleinen Finger oder besser der ganzen Hand.
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