Sonntag, 11. März 2012

Fukushima: Heisst gedenken auch verstehen?

Das Schweizer Radio DRS 1 kündigt in seinen heutigen Mittagsnachrichten um 12:30 Uhr einen Bericht über weltweite Proteste gegen die Atomkraft an: „Genau ein Jahr nach Fukushima – Rund um die Welt gedenken die Menschen der Atomkatastrophe und des Tsunami“, so „Rendez-vous“-Moderator Simon Leu.

Im angekündigten Bericht erinnert sich dann Auslandredaktorin Brigitte Zingg dann doch noch an den dritten Faktor, das Erdbeben: „Mit einer Schweigeminute gedachten Japanerinnen und Japaner der mehr als 19‘000 Opfer, die das Beben, die Flut und Reaktorkatastrophe gefordert hatten.“ Dann leitet die Berichterstatterin über zu Protestkundgebungen in Deutschland, Frankreich und zur heutigen Anti-Mühleberg-Demonstration und Fukushima-Gedenkveranstaltung „Menschenstrom gegen Atom“.

Spätestens ein Jahr nach der verheerenden Umweltkatastrophe ist klar, woran die beklagten rund 15‘800 Todesopfer gestorben sind – und woran nicht. Ihren Tod verursacht hat ein Jahrhundert-Erdbeben der Magnitude 9, gefolgt von einer riesigen Springflut. Darüber hinaus wurden rund 6‘000 Menschen verletzt und rund 3‘200 gelten als vermisst. Die meisten Todesfälle waren in den Präfekturen Miyagi (rund 9‘500) und Iwate (rund 4‘700) zu beklagen, während die Präfektur Fukushima mit rund 1‘600 Todesopfern vergleichsweise glimpflich davon gekommen ist.

Die offensichtliche Frage, die sich bei der Aufarbeitung der Umweltkatastrophe ein Jahr danach stellt, ist jene nach den siedlungspolitischen und zivilschützerischen Konsequenzen, die Japan aus dem Unglück zu ziehen bereit ist. Darauf gibt in der Schweiz auch eine Woche aufmerksamen Medienkonsums mit Dauerberieselung zum Thema Fukushima leider keine Antwort. Wer sucht, findet zwar Hinweise auf rund 300‘000 total zerstörte und rund 1 Million beschädigte Häuser infolge Beben, Flut oder Folgebrände. Er findet Schätzungen von Tausenden Menschen, die all ihr Hab und Gut verloren haben und derzeit noch in Notunterkünften wohnen, von 25 Millionen Tonnen Schutt, die regional noch ihrer Entsorgung harren.

Auch mangelt es nicht an Schätzungen der Kosten für den Wiederaufbau. 250 Milliarden Franken könnte demnach die Rückkehr in die Zivilisation offenbar kosten. Meine Frage ist bloss: In welche Zivilisation? Geht Japan davon aus, die Menschen in jene Küstenstriche zurückkehren zu lassen, die sie als ihre Heimat betrachten und in der sie sich offensichtlich rasch eine neue Existenz aufbauen wollen? Lassen sich diese exponierten Gegenden wirkungsvoll vor zukünftigen Erd- und Seebeben schützen sowie vor den Tsunamis, die darauf folgen können? Die Überflutung vom März 2011 lag ja keineswegs ausserhalb der Erfahrungswerte der japanischen Gesellschaft in dieser Gegend.

Wie weit geht die Bereitschaft der japanischen Gesellschaft, tradierte Siedlungsformen in jenen Gegenden aufzugeben, die sich nicht wirkungsvoll gegen die Zerstörungsgewalt von Naturereignissen mit Jahrhundert- oder Jahrtausendcharakter absichern lassen? Ist ein akzeptiertes Risiko dort nach heutigen Massstäben auch ein akzeptables Risiko? Ist dabei der Massstab für die Rückbesiedlung mit Fischerdörfern und Küstenstädten derselbe wie für die Standortwahl von Industrieanlagen mit Umweltgefährdungspotenzial?

Bevor aber die Welt – insbesondere die deutschsprachige Welt – dazu übergeht, die Geschehnisse vom März 2011 in Japan wieder zu vergessen, ist es nicht zu spät zu erkennen, dass die dort beklagten Todesopfer und meine Schilderung soweit nichts mit der Atomkraft zu tun haben. Japan beklagt am heutigen Gedenktag keinen einzigen Strahlentoten aus der Umweltkatastrophe 2011. Obwohl die japanischen Behörden breit angelegte radiologische Messkampagnen weiterführen, nicht zuletzt angesichts der nachvollziehbaren Ängste in der Bevölkerung, ist sich die internationale Gemeinschaft der Strahlenschützer einig, dass sich epidemiologische Studien im Fall Fukushima nicht lohnen, weil aufgrund der bisher gemessenen geringen bis sehr geringen Dosen keine statistisch signifikanten Korrelationen mit allenfalls erhöhten Krebsraten zu erwarten sind.

Die Umweltkatastrophe vom März 2011 in Japan hat auch eine Katastrophe, einen GAU, im AKW Fukushima Daiichi nach sich gezogen. Da gibt es gar nichts kleinzureden. Tausende von Menschen hatten und haben darunter zu leiden. Nach heutiger Erkenntnis wäre dieser nukleare Störfall vermeidbar gewesen, wenn der Reaktorbetreiber Tepco und die japanische Atomaufsicht den internationalen Erfahrungsrückfluss aus anderen Kernkraftwerken und die bestehenden Erkenntnisse aus Simulationen von lokalen Überschwemmungen rechtzeitig in Nachrüstungen hätten einfliessen lassen.

Gedenkveranstaltungen und Aktionen gegen den kollektiven Verlust an gesellschaftlicher Erinnerung können ihre Berechtigung haben. Sie setzen allerdings voraus, dass es vor dem drohenden Vergessen so etwas wie ein Verstehen oder eine Erkenntnis gegeben hat. In Bezug auf die Umweltkatastrophe in Japan vom März 2011 und die Berichterstattung zumindest in den deutschsprachigen Medien ist diese Vorausaussetzung nicht gegeben.

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