Dienstag, 9. April 2013

Zur Rettung der WIA aus den Fängen des Neoliberalismus


Verfolgt man die aktuellen Verlautbarungen von Gewerkschaftsbund und Unia Thun zum Betrieb der Thuner Altersheime durch die Wohnen im Alter AG (WIA), so geht es um nicht weniger als deren Rettung aus den Fängen des Neoliberalismus und ihre Rückführung in den sicheren, öffentlichen Hafen der Stadt Thun. Auch mein geschätzter Stadtratskollege und SP-Präsident Franz Schori stösst in seiner Kolumne im Thuner Tagblatt vom 6. April 2013 aus voller Gewerkschafterbrust in dieses Horn. Der Gewerkschaftsbund Thun, in dem Unia, VPOD, SEV und Syndicom vertreten sind, hat angekündigt, dem „Missmanagement infolge der Privatisierung“ mittels der „Reintegration der Altersheime in die städtischen Strukturen“ Einhalt gebieten und dazu eine Volksinitiative lancieren zu wollen.

Die derzeit viel beschworene Rückführung „in die städtischen Strukturen“ scheint eine bewusst schwammige gewerkschaftliche Sprachregelung zu sein, die über den Umstand hinweg helfen soll, dass die fraglichen Altersheime gar nie Teil der Stadtverwaltung waren.

Die Stiftung Altersheime der Stadt Thun wurde 1965 von diesen 10 Stiftern gegründet, von denen jeder Anrecht auf Einsitz im Stiftungsrat hatte:
  • Gemeinnütziger Frauenverein Thun
  • Gemeinnütziger Frauenverein Strättligen
  • Katholischer Frauen- und Mütterverein Thun (heute Katholische Frauengemeinschaft Thun)
  • Verein für das Alter Sektion Thun (heute Pro Senectute Amt Thun)
  • Arbeitgeberverband von Thun und benachbarten Gebieten
  • Kantonal Bernischer Handels- und Industrieverein Sektion Thun
  • Gewerbeverband Thun (heute Gewerbeverein Thuner KMU)
  • Gewerkschaftskartell Thun (heute Gewerkschaftsbund Thun)
  • Angestellten- und Beamtenkartell Thun (als Vereinigung 2004 aufgelöst)
  • Einwohnergemeinde Thun
Die Stifter leisteten Beiträge von je 1‘000 bis 5‘000 Franken, die Einwohnergemeinde Thun einen Beitrag von 50‘000 Franken. Im Gegenzug räumten die Statuten der Stadt weitgehende Entscheidbefugnisse über die Tätigkeit der Stiftung ein, so bezüglich Kauf und Verkauf von Liegenschaften; Aufnahme von Darlehen über 100‘000 Franken; Wahl der Stiftungsratsmitglieder; Genehmigung des Organisations- und Verwaltungsreglements. Zudem stellte die Stadt das Stiftungsratspräsidium. Die Stiftung Altersheime der Stadt Thun aufgrund der damaligen statutarischen Vorrangstellung der Einwohnergemeinde heute als „städtische Struktur“ darzustellen, ist eine ziemlich abenteuerliche Betrachtungsweise.

Im Rahmen einer Statutenrevision gab sich die Stiftung 2006 den neuen Namen „stiftung wohnen im alter thun“. Als gemeinnütziges Tochterunternehmen gründete die Stiftung gleichzeitig die „wia wohnen im alter ag“ mit der statutarischen Auflage, allfällige Gewinne ausschliesslich zur langfristigen Sicherstellung des Gesellschaftszwecks einzusetzen.

Der Thuner Stadtrat hat an seiner Sitzung vom 23.11.2006 Kenntnis genommen von dieser Reorganisation. Zu genehmigen hatte der Rat lediglich den Rahmenleistungsvertrag 2007-2010 der Stadt Thun mit der Stiftung. Diesem Vertrag habe ich damals zugestimmt. Im Stadtrat gab es zu diesem Geschäft lediglich ein Votum, nämlich dasjenige des Sprechers der SAKO 5 „Soziales“, SP-Stadtrat Hans-Ueli „Gügä“ Feuz. Er fand: „Die neue Stiftung betreut die Liegenschaften, die Betriebs AG kümmert sich um den Betrieb. Diese Teilung ist richtig und sinnvoll.“ Der Rat folgte einstimmig seinem Antrag auf Kenntnisnahme von der Reorganisation und Zustimmung zur Leistungsvereinbarung.

An derselben Sitzung nahmen wir im Stadtrat Kenntnis von einem neuen Altersleitbild der Stadt Thun. Daraus geht hervor, dass 2006 in der Stadt Thun 545 Betten in Übergangs-, Alters- und Pflegeheimen verfügbar waren, und zwar 238 unter öffentlich-rechtlicher und 307 unter privatrechtlicher Trägerschaft.

Das heisst, dass in der heute von den Gewerkschaften als gute alte Zeit herbeigesehnten Epoche eine klare Mehrheit der Thuner Heimplätze bereits unter privater Führung stand. Die kollektive Erfahrung mit diesem Führungsmodell war damals ganz offensichtlich so gut, dass auch eine SP-Fraktion einstimmig der Ausweitung des Modells zustimmen konnte.

Die aktuelle gewerkschaftliche Darstellung der zwischenzeitlichen Entwicklung als neoliberal motivierte Privatisierungswelle mit allen negativen Konsequenzen ist daher ein krasses Zerrbild der Realität. Unsere lokalen Gewerkschafter üben sich damit selber sozusagen in der Altenpflege eines überholten Klassenkampfes, recht verfänglich sogar im Web unter www.gutepflege.ch.

Zweifellos sind bei der Besetzung von Führungspositionen bei WIA Fehler gemacht worden, und zweifellos und bedauerlicherweise hatte das Personal der Institution darunter zu leiden. Als ob solche Fehler im öffentlichen Dienst nie vorkämen. Ich denke hier etwa an die Führungsspanne von SP-Regierungsrat Philippe Perrenoud beim Kanton Bern.

Zweifellos haben sich aus solchen Fehlbesetzungen auch arbeitsrechtliche Konflikte entwickelt, die zu bedauern sind. Nicht dass solche Konflikte im öffentlichen Dienst unbekannt wären. Ich erinnere mich hier nur allzu lebhaft an meinen bislang emotionalsten Moment im Thuner Stadtparlament, als im März 2007 eine Petition zur Behandlung kam, die explizit an die Legislative gerichtet war und welche die gebührende Wertschätzung eines von der Stadt Thun entlassenen Mitarbeiters einforderte. Als Sprecher der vorberatenden Sachkommission Präsidiales und Finanzen durfte ich das Eingangsvotum in die Grabesstille eines mit Gewerkschaftsgästen übervollen Stadtratssaales in ein Meer von Unia-Fahnen halten. Ich habe damals darauf plädiert, dass wir uns als Legislative im Sinne einer klaren Gewaltentrennung nicht in ein hängiges Gerichtsverfahren der Stadt Thun mit ihrem früheren Mitarbeiter einmischen. Mitarbeiter wie zuständiger Gemeinderat waren übrigens Mitglieder der SP.

Zweifellos sind die WIA-Mitarbeitenden in der Pflege einem leider wohl nicht abnehmenden Leistungsdruck ausgesetzt. Dass sie damit über alle Pflegeberufe und Institutionen im Land gesehen nicht allein sind, dürfte ihnen ein schwacher Trost sein. Dass die Burn-out-Rate im öffentlichen Dienst jedoch geringer wäre als in der Privatwirtschaft, gehört ins Reich der Märchen. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund gehäufter Personalausfälle in der städtischen Verwaltung rechtfertigt die Stadt als Arbeitgeberin ein tieferes als das ordentliche Rentenalter für ihr Personal.

Strategische Fehlentscheide und arbeitsrechtliche Konflikte gibt es sowohl in der Privatwirtschaft wie in der öffentlichen Verwaltung zu beklagen. Im vorliegenden Fall der WIA ist das Ausspielen der Organisations- und Arbeitsmodelle gegeneinander völlig unbegründet und wenig hilfreich – ausser vielleicht für die agierenden und agitierenden Gewerkschaften, die selber unter permanentem Druck stehen, ihre eigene Rolle zu rechtfertigen.

Mit einem der Urväter des Neoliberalismus, Alexander Rüstow, gesprochen im September 1932 in seinem Diskussionsbeitrag über „Die staatspolitischen Voraussetzungen des wirtschaftlichen Liberalismus“ auf der Tagung des Vereins für Sozialpolitik für ein neues Selbstverständnis der Liberalen:
„Der neue Liberalismus jedenfalls, der heute vertretbar ist, und den ich mit meinen Freunden vertrete, fordert einen starken Staat, einen Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interessenten, da, wo er hingehört. Und mit diesem Bekenntnis zum starken Staat im Interesse liberaler Wirtschaftspolitik und zu liberaler Wirtschaftspolitik im Interesse eines starken Staates – denn das bedingt sich gegenseitig, mit diesem Bekenntnis lassen Sie mich schliessen.“

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