Stefan Füglister, der ehemalige Kampagnenleiter von Greenpeace Schweiz und des Verkehrs-Clubs der Schweiz (VCS) und heute Mitarbeiter der Kampagnenforum GmbH in Zürich, dürfte sein Wochenziel erreicht haben: Die Schweizer Medien sind voll mit Berichten über den russischen Atomindustriekomplex von Majak. Dort setzte im Jahr 1957 eine chemische Explosion grosse Mengen von Radionukliden in die Umwelt frei. Die Anlage war unmittelbar im Anschluss an den zweiten Weltkrieg im Rahmen des sowjetischen Atomwaffenprogramms in aller Eile errichtet worden und diente während der Sowjetzeit der Produktion von waffenfähigem Plutonium. Den damaligen politischen und militärischen Prioritäten entsprechend kam dem Umweltschutz ein geringer Stellenwert zu. Entsprechend gross fielen die damaligen Umweltbelastungen aus. „Jetzt reden wir über die tödlichen Dinge: Strontium, Cäsium, Radioaktivität,“ wird ein befriedigter Kampagnenleiter Füglister von den Medien zitiert. Mit historischen und aktuellen Berichten aus der mutmasslichen atomaren Hölle Majak auf Erden hat er mindestens vorübergehend die klimapolitischen Vorzüge der Kernenergie in der gegenwärtigen öffentlichen Diskussion in der Schweiz in den Hintergrund gedrängt.
Aufhänger der Medienberichte war die Frage, woher genau das Uran in den Brennelementen des Kernkraftwerks Beznau stammt, beziehungsweise das Eingeständnis von Axpo-Chef Manfred Thumann, dass bezüglich der genauen Lieferkette noch Unsicherheiten bestünden und dass in der Umweltdeklaration des Kernkraftwerks Beznau getroffene Annahmen allenfalls zu revidieren seien.
Angesichts der akribischen Kontrollen, mit denen weltweit über spaltbares Material Buch geführt wird, sind derartige Unsicherheiten schwer verständlich und kritikwürdig. Unverständlich ist aber auch die mediale Bereitschaft, die blosse Erwähnung des Namens Majak als psychohygienische Kontamination der nationalen Energiepolitik entgegenzunehmen.
Wer daran zweifelt, dass auch im Westeuropa der vierziger und fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts ganz andere Umwelt- und Arbeitsschutzmassstäbe angewandt wurden als heute, sei etwa an die Versenkung von überschüssigen Munitionsbeständen im Thunersee durch die Schweizer Armee erinnert. Auch die Berichte des Thuner Stadtoriginals Eduard Aegerter im gleichnamigen Buch von Bettina Joder Stüdle und Franziska Streun über seine Arbeit in der Thuner Zündkapselfabrik legen Zeugnis ab von haarsträubenden Arbeitsbedingungen, unter denen er – und wohl nicht nur er – sich eine Quecksilbervergiftung holte, von der er sich zeitlebens nie ganz erholt hat.
Heute gelten sowohl in der Schweiz wie in Russland andere Massstäbe. Die radiologische Situation der Region um Majak ist Gegenstand eines internationalen Forschungsprojekts unter dem Namen Southern Urals Radiation Risk Research (SOUL), das vom Münchner Helmholtz Zentrum für Gesundheit und Umwelt koordiniert wird. Majak ist auch Standort des in Zusammenarbeit zwischen Russland und den Vereinigten Staaten von verschiedenen zivilen sowie militärischen US-amerikanischen und russischen Partnern erbauten Lagers für spaltbares Material (Fissile Material Storage Facility, FMSF). Die internationale Zusammenarbeit von Industrie und Behörden mit den am Kernbrennstoffkreislauf beteiligten Firmen Russlands ist kein Schandfleck in den Umweltbilanzen westlicher Stromversorger, sondern im Gegenteil der beste Weg, um Transparenz in die heutigen Zustände und Praktiken der ehemals sowjetischen Anlagen zu bringen, um auf die Einhaltung heutiger Umwelt- und Arbeitsschutznormen drängen und Investitionsmittel für die Sanierung von Altlasten generieren zu können.
Zu erinnern ist hier an das in der Schweiz aktuell geltende Moratorium für das Recycling von Uran in abgebrannten Brennelementen aus Schweizer Kernkraftwerken. Das eidgenössische Parlament hat es 2003 im Kernenergiegesetz verankert – nicht zuletzt auf Druck von antinuklearen Lobbyisten wie Stefan Füglister. Seit Mitte 2006 dürfen während zehn Jahren keine Brennelemente mehr zwecks Recycling in die modernen Wiederaufarbeitungsanlagen westlichen Zuschnitts im französischen La Hague und englischem Sellafield überführt werden. Die damals vorgebrachten Argumente und geschürten Ängste waren dieselben wie heute: Die Rede über die tödlichen Dinge darf nicht verklingen, sollen das taktische Ziel – die Blockade des Kernbrennstoffkreislaufs – und das langfristige strategische Ziel des Ausstiegs aus der Atomenergie erreicht werden.
Dieser Fundamentalismus kontrastiert zehn Tage vor der nächsten Uno-Klimakonferenz im mexikanischen Cancún unschön mit der Ankündigung des Bundesamts für Umwelt, die Schweiz werde die im Kyoto-Protokoll vereinbarten internationalen Klimaziele wahrscheinlich verfehlen. Ganz schlecht ins offizielle klimapolitische Bild der Schweiz passen auch die städtische Initiative „Energiewende Bern“ und ihr Gegenvorschlag, die zugunsten eines Gaskraftwerks in der neuen Kehrichtverbrennungsanlage Forsthaus auf die städtischen Beteiligungen an den Kernkraftwerken Gösgen und Fessenheim verzichten wollen, und dies zu einem politischen Preis von jährlich zusätzlichen rund 120‘000 Tonnen Kohlendioxid in der Atmosphäre.
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