Wirtschaftsfeindlich sei die Haltung der Steuerbehörden, und sie würden Unternehmen „rüde behandeln“ und so vertreiben, ärgerten sich die bürgerlichen Vertreter im Stadtrat. Wann? Letzte Woche? Nein. Diese Klage ertönte schon im Jahr 1925. Auslöser waren Abwanderungsgelüste der Berner Firma Hasler aus Steuergründen. Der eigentliche Hintergrund aber war, dass kurz vorher die nicht gerade innovationsfreudige Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei BGB – Vorläuferin der heutigen SVP – die Mehrheit im Kanton übernommen hatte. Das war ein Wendepunkt in der Berner Wirtschaftsentwicklung. Von da an ging es gemächlich abwärts.
Nicht vom Thuner Stadtrat ist hier die Rede, sondern vom Parlament der Stadt Bern. Es ist auch nicht meine Rede, sondern wörtlich zitiert aus der Berner Zeitung vom 25. Oktober 2003, Seite 22. Ich würde nicht so weit gehen, der SVP die Schuld am Niedergang der Berner Wirtschaft anzulasten. Dennoch passt der BZ-Standpunkt vor acht Jahren gut zur Tagesaktualität in Thun und zum Anspruch unserer SVP, die einzige politische Kraft zu sein, die sich für die steuergeplagten Unternehmen und Bürger sowie die Gesundung der Stadtfinanzen einsetzt. Er passt wie die Faust aufs Auge.
Vergessen wir nicht das Berner Wirtschaftswunder, das dem Ersten Weltkrieg vorangegangen war. Der Berner Historiker Christian Pfister beschreibt es so: „In dieser Zeit (1885-1914) holte Bern die industrielle Revolution nach. Berner waren Pioniere auf dem Gebiet der Elektrifizierung. Zuerst mit ausländischem Kapital, dann mit Kantons- und Gemeindegeld wurden die ersten Flusskraftwerke gebaut, etwa in Wynau. Zwischen Burgdorf und Thun verkehrte 1899 die erste elektrische Vollbahn Europas. Und die subventionierte, 1913 eröffnete Lötschberg-Linie war die erste Gebirgsbahn Europas mit Wechselstrom. Sie war das Vorbild für die Elektrifizierung der SBB. Die zweite boomende Branche war – ausgehend von Interlaken – der Tourismus im Berner Oberland. Ab 1890 wurden binnen weniger Jahre Bahnen aus dem Boden gestampft – zuletzt die Jungfraubahn 1912. Im Kielwasser der Bahnen wurden auf der grünen Wiese die Hotelpaläste der „Belle Epoque“ hochgezogen. Die Leinenweberei und die Porzellanfabrik Langenthal versorgten die Hotels mit Geschirr und Stoffen. Heute würde man dieses Zusammenspiel als Innovationscluster bezeichnen.“
Träger des Wirtschaftswunders waren gemäss Pfister Angehörige der freisinnigen Grossfamilie, die bis etwa 1920 im Kanton Bern die Mehrheit innehatten. „Vorläufer der heutigen Freisinnigen hatten nach dem liberalen Umschwung von 1831 die Ansiedlung der Uhrenindustrie und den Aufschwung der Käsereien befördert. Uhren und Käse waren bis ins späte 19. Jahrhundert die tragenden Sektoren der Berner Volkswirtschaft. Die Lötschbergbahn 1913 und die Landesausstellung in Bern von 1914 waren dann aber die letzten Stufen des Berner Innovationsfeuerwerks.
Nach dem 1. Weltkrieg erholte sich die Konjunktur erst ab den 1950er Jahren langfristig. Und das neue Proporzwahlrecht verhalf der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei BGB, der späteren SVP, um 1920 zur Mehrheit in den Kantonsbehörden. Die BGB förderte die traditionalen Wirtschaftssektoren: die Landwirtschaft und das Kleingewerbe. Es siedelten sich auch kaum mehr grosse Unternehmen an.“
Das gilt insbesondere auch für Thun, das nicht mit den heute zugkräftigen Wachstumspolen Bern und Biel mithalten konnte, also eher zum Wagen als zur Lokomotive wurde. Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass die Wirtschaftsschwäche und der Verschuldungsgrad der Stadt Thun schon 1958 ein Thema waren. So berichtete das Thuner Tagblatt am 29. Oktober 2008 in der Rubrik „Thun vor 50 Jahren“ in einem Beitrag des Stadtarchivs:
„16. Oktober 1958: Die Stadt Thun verschuldet sich immer mehr. Die fremden Mittel haben Ende 1957 die beängstigende Höhe von 57.5 Millionen erreicht. Dies entspricht einer Schuldenlast pro Kopf von zirka Fr. 2‘000.“
Überschlagsmässig haben sich die Schulden der Stadt Thun pro Kopf in den vergangenen 50 Jahren nominal mehr als verdoppelt. Absolut haben sie sich sogar ca. vervierfacht (von 57.5 Millionen auf 200 Millionen Franken).
Real, das heisst inflationsbereinigt, haben sie sich aber halbiert! 2‘000 Franken im Jahr 1958 entsprechen mit der Inflation 8‘173 Franken im Jahr 2007. 200 Millionen Schulden im Jahr 2007 verteilt auf 42‘300 Einwohner im Jahr 2007 ergibt 4‘730 Franken pro Einwohner (58% oder rund die Hälfte von 8‘173.‐).
Wer heute im Gemeindewahlkampf 2010 den Schuldenberg der Stadt Thun der jahrzehntelangen SP-Präsidentschaft von Ernst Eggenberg und Hansueli von Allmen anlasten will, ist gut beraten, das Geschichtsbuch etwas weiter zurückzublättern. Aufgrund der Faktenlage könnte die SP nämlich für sich beanspruchen, die städtischen Schulden pro Kopf der Bevölkerung unter ihrer Regentschaft halbiert zu haben. Deshalb möchte ich heute auch nicht entscheiden müssen, wessen Erbe wir in der Gemeinderatswahl vom 28. November 2010 mit der schwierigen Finanzlage der Stadt wirklich antreten: Das unmittelbare Erbe der SP Thun oder historisch jenes von BGB bzw. SVP des Kantons Bern.
Klar ist aber, dass entgegen der offiziellen Darstellung des amtierenden Gesamtgemeinderats und von SP-Finanzvorsteher von Allmen die strukturelle Schieflage der Stadtfinanzen keineswegs behoben ist. Die anstehende Debatte um den Voranschlag 2011 und den mittelfristigen Finanzplan der Stadt wird das in aller Deutlichkeit aufzeigen. Wessen Erbe wir auch immer antreten, es wird ein schweres Erbe sein, das aufzulösen unter Umständen eine Generationenaufgabe sein wird. Klar ist auch, dass jener Superman, der diese Schieflage im Nu beheben könnte, noch nicht geboren ist. Er steht im November 2010 auch nicht zur Wahl.
Im Bewusstsein dieser Ausgangslage verfechte und verfolge ich eine langfristig ausgerichtete Finanzpolitik. Mehr zu ihren konkreten Ansatzpunkten in einem folgenden Beitrag. Stay tuned!
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