Sonntag, 20. März 2011
Kann das bei uns auch passieren?
Die Entwicklungen der vergangen Tage am Standort Fukushima Daiichi haben gezeigt, dass die Frage sehr berechtigt war.
Häufiger aber wurde ich zwischenzeitlich mit der Frage konfrontiert, ob „das“ auch bei uns in der Schweiz passieren könnte. Gegenstand der Frage war natürlich der Störfall im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi unter Katastrophenbedingungen, wie sie in Japan geherrscht haben: Ein schweres Erdbeben gefolgt von einer schrecklichen Flutwelle. Im Rampenlicht der hiesigen Medien stand dabei jeweils das KKW Mühleberg nach einem hypothetischen Dammbruch am Wohlensee.
Wie die Nachrichtenagentur NucNet heute berichtet, betrug die Erschütterungsintensität des Erdbebens vom 11. März 2011 am Standort Fukushima Daiichi 507 Gal (cm/s2). Das Werk war aber ausgelegt auf maximale Beschleunigungen von lediglich 449 Gal. Die anschliessende Flutwelle erreichte offenbar im Gebiet der Präfektur Fukushima eine Höhe von 23 Metern, während das Werk bloss auf Wasserwalzen von 10 Metern ausgelegt war.
Viel offensichtlicher als die Frage, weshalb die Auslegungskriterien des KKW Fukushima Daiichi bei dessen Bau nicht konservativer gewählt worden waren, erachte ich die Frage nach den Auslegungskriterien der restlichen Siedlungsinfrastruktur in der Präfektur. Immerhin hat diese Infrastruktur bei ihrem Kollaps unter der Wucht von Erdbeben und Tsunami ja nach aktuellen Schätzungen gegen 15‘000 Menschen unter sich begraben.
Ebenso ist zu fragen, was unter den konkreten Bedingungen einer hypothetischen Naturkatastrophe, die das KKW Mühleberg ernsthaft gefährden könnte, von der Infrastruktur unserer Bundeshauptstadt noch stehen würde bzw. was der supponierte Dammbruch am Wohlensee an direkten Schäden ausserhalb des Werkgeländes verursachen würde.
Mich irritiert noch immer und zunehmend, dass die in den westlichen Medien angestellten Überlegungen sich ausschliesslich um die beobachteten oder allenfalls zu erwartenden Schäden an KKW hüben und drüben drehen. Die hypothetische Evakuation von Tokio oder Bern in der Folge von Reaktorschäden beschäftigt mehr als die effektive Auslöschung ganzer Landstriche als direkte Wirkung der Naturereignisse. Kurz: Die vernichtenden, direkten Auswirkungen einer Naturkatastrophe werden in der Berichterstattung und damit in der öffentlichen Wahrnehmung den indirekten und bisher vergleichsweise geringen Schäden der Kerntechnik untergeordnet.
Solange wir bei einem hypothetischen Erdbeben der Stärke 9.2 auf der Richterskala in der Schweiz gefolgt von einem Staudammbruch und einer 23 Meter hohen Flutwelle zuerst an Mühleberg denken, begehen wir womöglich denselben Fehler wie die Japaner, die unter ihrer Küstenbevölkerung Tausende von Todesopfern zu beklagen haben, während von den Reaktorblöcken von Fukushima immerhin noch so viel steht, dass es sich darum zu kämpfen lohnt.
«Japan wird sich erholen» – und die USA?
In derselben Ausgabe sagt NZZ-Redaktor Markus Städeli Japan „nach dem atomaren das wirtschaftliche Debakel“ voraus. Eine schrumpfende und alternde Gesellschaft sowie explodierende Staatsschulden führten unweigerlich zu einem dramatischen wirtschaftlichen Abstieg Nippons. Dazu wäre es ohnehin gekommen. Die aktuelle Umweltkatastrophe beschleunige bloss das Unvermeidliche.
Ich lasse den Widerspruch einmal unkommentiert stehen. Vielleicht haben Sie sich in den letzten Tagen der japanischen Krise wie ich gefragt, was dem Yen unter diesen Bedingungen zu seinem Höhenflug verholfen hat. Intuitiv hätte ich das Gegenteil erwartet. Erklären kann ich mir das bloss mit der Vorstellung, dass in bedeutendem Ausmass Kapital vom Ausland nach Japan fliesst.
Dass dort riesige Investitionssummen für den Wiederaufbau benötigt werden, ist wohl anzunehmen. Aber nachdem die japanischen Staatsschulden gemäss NZZ-Bericht bereits heute auf 225% der jährlichen Wirtschaftsleistung angestiegen sind und weiter auf 600% des Bruttoinlandprodukts anzuwachsen drohen, wird das Land auf seine Auslandinvestitionen zurückgreifen müssen, um den Investitionsbedarf im Inland decken zu können.
Erschreckenderweise ist Japan heute der zweitgrösste ausländische Gläubiger der USA, gleich nach China. Nach der offiziellen Statistik der amerikanischen Notenbank hielt Japan Ende Januar 2011 US-Staatsanleihen im Wert von USD 886 Milliarden, nach China mit USD 1‘155 Milliarden. Das Fed selbst hielt gleichzeitig US-Staatspapiere im Wert von USD 1‘125 Milliarden.
Erschreckend an dieser Feststellung ist die Perspektive, dass ein Abzug japanischer Kapitalanlagen aus den USA die drohende US-Schuldenkrise dramatisch beschleunigen könnte. China hat schon länger angekündigt, seine Devisenreserven umschichten zu wollen, damit aber gezögert, um seinen wichtigen Absatzmarkt in den USA nicht zu gefährden. Japan wird diese Skrupel zwar grundsätzlich teilen, in der aktuellen Ausgangslage aber möglicherweise keinen anderen Weg sehen, als sich unter Inkaufnahme von Kursverlusten von einem Teil seiner US-Anlagen zu trennen.
Vor diesem Hintergrund ist der frühere US-Präsidentenberater Dan Roberts unglaubwürdig, wenn er heute anführt nicht zu wissen, weshalb sich der weltgrösste Rentenfonds Pimco im Februar aus den amerikanischen Staatsanleihen geflüchtet hat. Dessen Manager Bill Gross hatte aus den Gründen für seinen Ausstieg ja kein Geheimnis gemacht.
Möglichweiser stehen wir am Einstieg auf eine sich rasch drehende Abwärtsspirale der US-Schuldtitel, angetrieben von einer überbordenden Verschuldung in den USA und Japan und beschleunigt durch den krisenbedingten Rückzug Japans aus diesen Anlagen.
Wem das noch keine Sorge bereitet, mag sich vor Augen halten, dass auch die Schweiz Ende Januar 2011 US-Staatsanleihen im Wert von USD 108 Milliarden hielt, fast doppelt so viel wie Deutschland und fast viermal so viel wie Frankreich.
Sonntag, 13. März 2011
Weiterreden über tödliche Dinge
In den aktuellen Medienberichten aus dem Erdbeben- und Tsunami-Katastrophengebiet in Japan dominiert die Angst vor der nuklearen Katastrophe. Sogar die NZZ lässt sich in der heutigen Sonntagsausgabe zum Aufmacher „Japan am Rand von Atom-Desaster“ hinreissen. Jetzt reden wir also wieder über die tödlichen Dinge: Strontium, Cäsium, Radioaktivität, die „Atomexperte“ Stefan Füglister von Greenpeace so gern in den Schlagzeilen sieht, weil sie Ängste und damit Aversionen gegen die Kerntechnik schüren oder zumindest bestätigen.
Tatsache ist, dass es sich bei den Ereignissen in Japan um eine Naturkatastrophe handelt, bei der mehr als zehntausend Menschen ihr Leben verloren haben. Nach heutigem Wissensstand ist in der Folge dieser Naturkatastrophe kein Mensch durch nukleare Einwirkung zu Tode gekommen, und ich hege die Hoffnung und wage die Voraussage, dass es dabei bleiben wird.
Die wirkliche Tragödie, der das mediale Augenmerk, unsere Sorge und Anteilnahme gebühren, findet in Japan nicht in und um die Kernkraftwerke statt, auch wenn einzelne davon beschädigt sind, sondern in jenen Krisengebieten, die vom Erdbeben und der darauf folgenden Springflut buchstäblich dem Erdboden gleich gemacht worden sind. Wesentlich für die Krisenbewältigung wäre auch die Frage, wie es mit der Stromversorgung im Land aussieht und mit jenen Kraftwerken, die zurzeit keine Schlagzeilen machen.
Die wirklich relevanten Aspekte des aktuellen Geschehens in Japan werden in der medialen Berichterstattung überschattet durch ein herbeigeredetes Atom-Desaster im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi. Von den sechs Reaktoren dieses Werks waren drei zum Zeitpunkt des Erdbebens vom 11. März für geplante Revisionsarbeiten ausser Betrieb. Die anderen drei reagierten auslegungsgemäss mit automatischen Schnellabschaltungen. In dieser Betriebsphase ist entscheidend, dass auch nach Unterbrechung der Kettenreaktion im Reaktorkern die Nachzerfallswäre abgeführt werden kann. Andernfalls überhitzt der Kern und die Kernbrennstäbe nehmen Schaden, was zu einer Kontamination des geschlossenen Kühlkreislaufs mit Spaltprodukten führen kann.
Die Nachwärmeabfuhr bedingt einen aktiven Kühlkreislauf mit elektrischen Pumpen, die im vorliegenden Fall anfänglich von Diesel-Notstromaggregaten angetrieben worden waren. Aus noch ungeklärten Gründen, aber wahrscheinlich infolge Überflutung durch den Tsunami, fielen die Notstromaggregate im Reaktorblock 1 nach etwa einer Stunde Betriebszeit aus. An ihrer Stelle übernahmen Batterien vorübergehend die Stromversorgung der Pumpen, bis zusätzliche mobile Dieselaggregate auf das Werksgelände geschafft werden konnten.
Dennoch scheint es zumindest im Reaktorblock 1, wahrscheinlich aber auch im Block 3, zu Brennstoffschäden gekommen zu sein. Fukushima-Daiichi-1 ist nach Angaben der Internationalen Atomenergieorganisation, IAEO, ein Siedewasserreaktor des Typs BWR/3 von General Electric mit einer elektrischen Nettoleistung von 439 MW. Er steht seit März 1971 in Betrieb und gilt nach heutigen Massstäben als kleiner Reaktor.
Der BWR/3 verfügt offenbar über ein Mark-I-Containment, d.h. über eine Sicherheitsumhüllung aus Stahl und Beton. Die folgende schematische Darstellung des Mark-I-Containments stammt aus einer Publikation der amerikanischen Sicherheitsbehörde US Nuclear Regulatory Commission, NRC.
Medienberichten zufolge ist oberste Teil des Reaktorgebäudes von Fukushima-Daiichi-1 bei einer Wasserstoffexplosion abgesprengt worden. Der illustrativste Bericht dazu stammt von der New York Times. Wasserstoff bildet sich in geringem Ausmass bei laufendem Betrieb in der Kernzone eines Siedewasserreaktors, kann aber auch das Reaktionsprodukt von überhitzter Brennstoffummantelung mit dem Kühlwasser sein. Weiter wird Wasserstoff in der Turbinenhalle zur Kühlung des Generators verwendet. Die genauen Umstände dieser Explosion und die allfällige Quelle des Wasserstoffs sind zurzeit noch unbestätigt.
Wie das oben stehende Schema zeigt, befindet sich oben im Reaktorgebäude ein Zwischenlagerbecken für abgebrannten Brennstoff. Beim Betrachten der beschädigten Gebäudehülle von Reaktorblock 1 stellt sich die Frage, ob sich zum Zeitpunkt der Explosion darin Brennstoff befunden hat und wenn ja, wie es darum steht.
Wesentlich ist die Aussage des japanischen Betreibers der Anlage Fukushima Daiichi, TEPCO, dass die Sicherheitshüllen (Containments) der Blöcke 1, 2 und 3 intakt sind – die Explosion in Block 1 hat sich ausserhalb der Sicherheitshülle ereignet. Auch wenn es zu Brennstoffschäden gekommen sein sollte, und dafür sprechen die Indizien, halten damit als zweite Barriere der Reaktorbehälter (im obigen Schemabild braun) und als dritte Barriere die birnenförmige Sicherheitshülle aus Stahl und Beton.
Gemäss üblicherweise sehr zuverlässigen Berichten der Nachrichtenagentur NucNet haben bei den Blöcken 1 und 3 kontrollierte Druckentlastungen der Containments stattgefunden und in beide Reaktoren wird Meerwasser unter Zugabe von Bor als Neutronenfänger zur Notkühlung eingespiesen. Das dürfte zielführend sein, aber für beide Reaktoreinheiten das definitive Ende ihrer 40-jährigen Betriebsphase bedeuten.
Der von den Medien und „Atom-Experten“ immer wieder bemühte Vergleich der jetzigen Situation in Japan mit dem Reaktorunfall 1986 von Tschernobyl ist sachlich falsch. Er dient allein der Angstmache. Zutreffend ist hingegen der Vergleich mit dem schweren Störfall von 1979 im US-Kraftwerk Three Mile Island. Der damalige Vorfall wurde auf der Schweregrad-Skala Ines (International Nuclear Event Scale) als „Unfall mit Gefährdung der Umgebung“ eingestuft (Stufe 5). Die aktuelle Situation in Fukushima Daiichi gilt demgegenüber vorerst als „Unfall ohne signifikante Gefährdung der Umgebung“ (Stufe 4).
Zuverlässige Informationsquellen über die weitere Entwicklung der Situation in den japanischen Kernkraftwerken sind: